Delphi Werke von Charles Dickens (Illustrierte) (German Edition)
zärtliche Mutterliebe in verstockter Vergessenheit all dessen, was sie für ihn erduldet, einer Rotte von nichtswürdigen, verworfenen Menschen anschloß, daß er in tollem Übermut eine verderbliche Bahn betrat, die ihm den Tod und der Mutter Schande bereiten mußte? Ach, was ist es um die Natur des Menschen! Ihr habt es wohl schon lange erraten.
Das Maß des Elends der unglücklichen Frau sollte sich bald erfüllen. Zahlreiche Untaten waren in der Umgegend begangen worden. Da jedoch die Verbrecher unentdeckt blieben, so trieben sie ihr Unwesen nur um so dreister. Endlich veranlaßte eine mit beispielloser Frechheit verübte Räuberei eine ungewöhnlich strenge Nachforschung, die man nicht vermutet hatte. Es fiel Verdacht auf den jungen Edmunds und seine drei Spießgesellen. Er wurde verhaftet – vor Gericht gestellt – für schuldig erkannt – und zum Tode verurteilt.
Der wilde, durchdringende Schrei einer weiblichen Stimme, der durch den Gerichtssaal tönte, als der feierliche Spruch gefällt wurde, klingt noch in meinen Ohren. Er füllte das Herz des Verbrechers, auf den das Verhör, die Verurteilung, das Nahen des Todes keinen Eindruck machte, mit Schrecken. Die Lippen, die bisher starrköpfiger Trotz verschlossen hatte, bebten und öffneten sich unwillkürlich; das Gesicht nahm eine erdfahle Farbe an, als der kalte Schweiß aus allen Poren drang. Die derben Glieder des Verbrechers zitterten, und er wankte in den Kerker zurück.
In den ersten Ausbrüchen ihrer Seelenangst warf sich die leidende Mutter zu meinen Füßen auf die Knie und flehte inbrünstig zum Allmächtigen, der ihr bisher in all ihrem Trübsal beigestanden, sie von einer Welt voll Elend und Jammer zu erlösen und das Leben ihres einzigen Kindes zu schonen. Darauf folgte ein Ausbruch des Schmerzes und ein Kampf, wie ich ihn in meinem Leben nicht mehr zu erleben hoffe. Ich sah, daß ihr Herz in dieser Stunde für immer brach, aber niemals trat wieder eine Klage oder ein Murren über ihre Lippen.
Es war ein trauriger Anblick, das Weib Tag für Tag in den Gefängnishof gehen zu sehen, um das harte Herz des verstockten Sohnes mit den heißen Bitten der Mutterliebe zu erweichen. Sie mühte sich umsonst. Er blieb verschlossen, starrköpfig und ungerührt. Nicht einmal die unvorhergesehene Verwandlung seiner Todesstrafe in vierzehnjährige Strafverschickung konnte seinen Starrsinn auch nur auf einige Augenblicke beugen.
Aber der Geist der Ergebung und Standhaftigkeit, der sie solange aufrechterhalten hatte, vermochte der körperlichen Schwäche und Entkräftung nicht mehr zu widerstehen. Sie fiel krank darnieder. Noch einmal wollte sie ihren Sohn besuchen und wankte mit ihren zitternden Gliedern aus dem Zimmer, aber die Kräfte verließen sie und sie sank ohnmächtig zu Boden.
Jetzt wurde der Gleichmut des jungen Mannes, womit er geprahlt halte, wirklich auf die Probe gestellt, und dir Vergeltung, die über ihn kam, war von der Art, daß sie ihn beinahe wahnsinnig machte. Ein Tag verfloß, und seine Mutter war nicht da; ein anderer ging vorüber, und sie kam nicht zu ihm. Der dritte Abend verging, und noch hatte er sie nicht gesehen, und in vierundzwanzig Stunden sollte er von ihr getrennt werden – vielleicht auf immer.
Wie tauchten die langvergessenen Erinnerungen an die früheren Tage in seinem Geiste auf, wenn er im schmalen Hofe seines Gefängnisses auf und ab schritt, als müßte seine Eile die ersehnten Nachrichten um so schneller herbeilocken – und wie bitter war das Gefühl seiner hilflosen Lage und Verlassenheit, das in ihm aufstieg, als er die Wahrheit vernahm! Seine Mutter, die einzige Verwandte, die er je gekannt hatte, lag krank darnieder – vielleicht in den letzten Zügen –, kaum eine Viertelstunde von ihm entfernt. Wäre er frei und fessellos, in wenigen Minuten stünde er an ihrer Seite. Er ging ans Gitter und rüttelte an den Eisenstäben mit der Kraft der Verzweiflung, bis sie erklirrten, und stemmte sich gegen die dicke Mauer, als müßte er durch das Gestein dringen; aber das Gebäude spottete seiner schwachen Anstrengungen. Er schlug die Hände zusammen und weinte wie ein Kind.
Ich brachte dem Sohne die Verzeihung und den Segen der Mutter in das Gefängnis, und der Kranken seine feierliche Versicherung der Reue und seine flehentliche Bitte um Vergebung vor das Sterbebett. Ich hörte mit innigem Mitleiden den Reuigen tausend Pläne entwerfen, wie er seine Mutter unterstützen wollte, wenn er zurückgekehrt wäre;
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