Dem eigenen Leben auf der Spur
ich in der Mitte des Bachs und frage mich, was eigentlich passiert, wenn ich stecken bleibe. Ich habe keinen Menschen weit und breit gesehen. Was sollte ich am Telefon durchgeben? Dass ich mich auf einem namenlosen Feldweg sechs Kilometer vor einem Dorf, dessen Namen ich kaum verständlich ausspreche, befinde? Solche Momente bringen mich immer wieder schnell von der famosen Vorstellung ab, als erster Rollstuhlfahrer zum Beispiel den Amazonasdschungel durchqueren zu wollen.
Irgendwie tragen mich die Engel zum anderen Ufer. Danke, Gott, murmle ich und genieße die breite Piste.
Laute Techno-Musik empfängt mich in der Cafeteria José am Plaza de España des 3000-Seelen-Örtchens Puebla de Sancho Pérez. Ist doch gar nicht so schwer auszusprechen! In den letzten fünf Stunden war das Rauschen des Windes das einzig Laute, das ich vernommen habe, der Kontrast zu hier hätte nicht krasser ausfallen können. Ich beginne zu träumen und stelle mir vor, Wodka Redbull anstelle des alkoholfreien Bieres zu trinken, die Pilgerrobe gegen ein schrilles Club-Outfit einzutauschen und mich unter die Diskokugel eines Clubs zu bugsieren.
Breite Wege
Ich muss an Guido denken, mit dem ich so viele Male in Diskotheken war. Wir liebten tanzbare Musik, ursprünglich hörten wir nur Rock, aber auch die hämmernden Techno-Beats zogen uns in ihren Bann. Das war nach der Rückkehr von meinem Studienaufenthalt in Amerika, eine unruhige, oft genug besinnungslose Zeit. Wie oft hat er mich hilfsbereit Stufen hochgezogen und jede Menge Kommentare abfangen müssen. »Hey, dein Freund ist mir schon zweimal über den Fuß gefahren«, beschwerten sich manchmal Diskobesucher bei ihm. »Er hat kein Gefühl im Reifen«, lautete dann seine Standardantwort, »vielleicht redest du selbst mit ihm.«
Der Barkeeper reißt mich aus meinen Gedanken, indem er eine CD vor mich hinlegt. »DJ Tiesto-Session« steht darauf, also genau die Musik, die wir gerade gehört hatten. Irgendwie muss er bemerkt haben, dass ich voll auf die Musik abfuhr, und hat sie mir gebrannt. Er kann nicht ahnen, dass ich sie in den nächsten Wochen nicht abspielen kann. Umso größer wird meine Überraschung sein, wenn ich sie später bei mir zu Hause hören werde.
Ausgeruht und innerlich gestärkt gehe ich an der Kirche Santa Lucia vorbei aus der Stadt hinaus. Egal, wie klein ein Ort ist, eine Kirche steht in jedem Dorf, und der Pilgerweg führt zwangsläufig daran vorbei.
Ich folge den gelben Pfeilen an Bahngleisen entlang zu einem Abstellbahnhof. Ein einsamer Lokführer ruft mir gestikulierend im Vorbeifahren etwas zu, aber der Lärm der Maschine ist zu groß. Schön ist diese Wegstrecke bestimmt nicht, allenfalls interessant, obwohl sie sich nicht sonderlich von einem Rangierbahnhof in Deutschland unterscheidet. Geruch von altem Schmieröl, rostigem Metall und frisch gesägtem Holz vermengt sich vor einer postindustriellen Hochofenlandschaft.
Das hohe Tor, an das ich gelange, ist verschlossen, das Gelände um mich herum nun eingezäunt. Die Pfeile zeigen aber eindeutig durch dieses Tor hindurch, hinaus ins Freie. Was tun? Ich rüttle heftig an den schweren Stäben. Niemand kommt, und der schwere Eisenriegel will auch nicht brechen. Andere Pilger würden das Hindernis vielleicht überklettern, und ich ärgere mich, meine Durchschnittsgeschwindigkeit nie verlässlich planen zu können. Ein verschlossenes Tor, eine hohe Stufe, ein schlammiger Bach kosten mich Stunden. Allenfalls auf einer asphaltierten Straße kann ich etwa sieben Kilometer pro Stunde veranschlagen. Aber in der vergangenen halben Stunde waren es null, und vor mir liegt noch eine stramme Etappe.
Endlich kommt ein Bahnangestellter, der mir einen verwinkelten Weg über Glasscherben und Gleise zu einem Nebenausgang zeigt. Ich bin frei. Bisher war mir das Gefühl, eingeschlossen zu sein, auf dieser Reise unbekannt.
Zafra, eine der ältesten und traditionsreichsten Städte der Extremadura, liegt während der Siesta im Dornröschenschlaf. Ich bin versucht, für heute Schluss zu machen und schon hier in die Herberge zu gehen. Der Wanderführer warnt vor den kommenden Kilometern, die »zuerst leicht und bald stärker ansteigend« auf einen kleinen Bergrücken führen.
Das alltägliche Leben im Zeitraffer
Manchmal verstehe ich selber nicht, was mich antreibt. Die Frage nach dem Warum beantworte ich oft mit dem Zitat »There's a hunger still unsatisfied« von Pink Floyd. Eine tiefe Sehnsucht nach
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