Dem eigenen Leben auf der Spur
mich gar nicht zu sorgen brauchen.
Tina, eine Freundin aus Essen, hat mir für die Reise einen kleinen Glücksbringer mitgegeben. Obwohl sie an das ganze esoterische Zeug nicht glaubt, wie sie sagt, und auch meinen Glauben an Gott nicht teilt, schrieb sie mir die ihres Erachtens nur angeblichen Wirkungen des Amethysten auf. Heilung, Reinigung etc., so stand es in dem handschriftlichen Brief, der mich kurz vor der Abreise noch erreichte. Wie üblich schrieb sie den Brief in ihrer irischen Lieblingskneipe bei John Power. Gentlemanlike schob John ihr eine Kerze hin und gelegentlich ein frisches Bier.
Die Verkäuferin des Steins hatte ihre Entscheidung mit einem routinierten »das fühlt sich richtig an« bestätigt, und so trage ich ihn von Beginn der Reise an in der rechten Hemdtasche meines Funktionshemdes. Am zweiten Abend wusch ich das Hemd, und der Stein wanderte zufällig in die linke Brusttasche. Vielleicht auch aus Gründen der Balance. Ich hatte mich gerade zu wundern begonnen, warum ich lediglich an der rechten Hand große Wasser- und Blutblasen bekommen hatte, und mich damit beschwichtigt, dass ich mit rechts einfach fester zugreife. Am dritten Tag bildeten sich Blasen nun auch an der linken Hand, während rechts keine neuen hinzukamen. War der Stein dafür verantwortlich? Natürlich wollte ich auf die mögliche Reinigung nicht verzichten, also steckte ich ihn erst einmal in die Hosentasche. Als sich nun auch links keine weiteren Blasen bildeten, verschwand der Stein im Rucksack.
Während der Reparatur der Handschuhe sah ich mir lange meine zerschundenen Hände an, und meine Wut auf den Stein steigerte sich gewaltig. Warum habe ich das zugelassen? Bei einer Rast zwischen einsamen Weinbergen kann ich meine Aggression nicht mehr stoppen. Ich fische den Stein aus dem Rucksack, lege ihn auf einen Feldstein und schlage mit einem anderen drauf, so fest ich eben kann. Genugtuung erfüllt mich, als ich sehe, wie sich die hellen Fasern in rosafarbenes Puder verwandeln.
Als ob Ballast von mir abgefallen wäre, gehe ich beschwingt weiter. Scheiß Stein. Bis Santiago bekomme ich keine weiteren Blasen mehr.
Du hast gerade gehen gesagt..., etwas klingt in meinem Kopf nach. Ein Arbeitskollege, stets bemüht um Korrektheit in jeder Hinsicht, wies mich eines Tages mit leicht angespanntem Gesichtsausdruck auf meine Formulierung hin. Bei mir zieht sich immer alles zusammen, wenn jemand mir zum Beispiel den Weg beschreibt und stehend von oben herab erklärt: »Dann rollen Sie nach links und danach wieder nach rechts... «
Im Cowboy-Look
Ich verdränge den Umstand keineswegs, dass ich nicht laufen kann, betrachte meine Fortbewegung aber dennoch als gehen. Rollen hat nicht nur etwas weniger Aktives, es beschreibt für mein Empfinden keine eigentliche Fortbewegung, es sei denn mit Rollerblades und Skateboards. Eher schon komme ich mir vor wie ein Cowboy, der ein Pferd reitet. Halt eines aus Stahl. Mein Satz »Ich reite da jetzt mal hin«, würde den korrekten Kollegen, und nicht nur ihn, freilich vollends verwirren.
I’m a cowboy
On a steel horse I ride
I’m wanted
Dead or Alive
Lauthals beschalle ich die Weinstöcke und danke Jon Bon Jovi für einen der größten Songs der Rockgeschichte. Mit achtzehn bin ich extra mit einem Freund zusammen auf meinem Motorrad losgefahren, weil es die Platten »Slippery When Wet« und dann auch »New Jersey« für einen Zehner in der Stadt im Angebot gab. Heute lache ich darüber, wie wichtig mir das damals alles war.
Nach stundenlangem einsamem Wandern nehme ich weit vor mir auf dem Feldweg eine in der Flitze flimmernde Gestalt wahr. Ein Pilger? Ich versuche sie einzuholen und frage mich, wer das wohl sein kann. Der Tscheche kommt kaum in Frage, er entspannt sich bestimmt schon längst in der Herberge. Vor allem jedoch wünsche ich mir, dass es jemand anderes sei, Ludeks Kampf ist nicht meiner, ich sehne mich nach ein bisschen Abwechslung.
Ich nähere mich nur langsam, obwohl meine Hände den heißen Stahl im rasenden Takt berühren und die Räder antreiben. Die Person besitzt einen raumgreifenden Schritt. Je näher ich komme, desto deutlicher muss ich feststellen, dass es sich um einen Mann handelt... Schade! Im Mittelalter hat man den Pilgern Hopfen verabreicht, um ihre Lust zu unterdrücken. Stundenlanges Wandern schärft eben nicht nur die Sinne.
Als die Gestalt sich umdreht, erkenne ich Ludek. Augenblicklich verlangsame ich mein Tempo. Beim
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