Dem eigenen Leben auf der Spur
intensivem Er-leben brennt in mir, eine »lust for life«, wie Iggy Pop es nennt. Ich fühle mich wie eine römische Kerze, die an beiden Enden lodernd brennt. Diesen zehrenden Hunger und den ewigen Durst kann ich auf dem Jakobsweg stillen.
Bei meiner ersten Wanderung auf dem Camino Francés habe ich Bernhard kennengelernt, der schon seit sechs Wochen unterwegs war. Er hatte in der Schweiz seinen 2000 Kilometer langen Marsch nach Santiago begonnen und mir unter anderem von dem grandiosen Erlebnis des GR 65 berichtet.
Bernhard sah mit seiner hageren Gestalt, dem dichten weißen Bart und langen schlohweißen Haaren aus wie Gandalf. Furchige, lederige Haut und blitzende blaue Augen. Eine Ehrfurcht einflößende Erscheinung, wenn er dastand mit seinem Pilgerstab und nichts sagte. Er hatte als Projektmanager für Siemens 30 Jahre im Ausland verbracht. Seine Geschichte habe ich auf meinen weiteren Jakobswegen mit mir getragen, vielleicht war es seine Offenheit, wodurch wir Freunde wurden.
Er war mit zwei Handys unterwegs, mit dem einen telefonierte er mit seiner Frau, und mit dem anderen mit seiner über 30 Jahre jüngeren Freundin aus Taiwan. Die Entscheidung zwischen beiden fiel ihm schwer. Obwohl er die Jüngere liebte, wäre er am liebsten ungebunden gewesen, bei seiner Frau blieb er nur aus reinem Pflichtbewusstsein. Doch die Taiwanesin war nur wegen ihm nach Deutschland gezogen. Nun suchte er eine Antwort auf viele Fragen, unter anderem, mit wem er Zusammenleben wollte.
»Manchmal verlor ich in Frankreich den Abzweig, dann ging ich einfach meinen eigenen Weg. Die Richtung kannte ich ja, und was bringt es, sich zwanghaft an Routen zu halten, das haben Pilger früher auch nicht gemacht. Ich ging an einer Landstraße entlang. Noch am Tag zuvor passierten hier stundenlang im Minutenrhythmus schwere Lastkraftwagen und hatten mir Staub und Abgase ins Gesicht geblasen. Ich spürte eine tiefe, zermürbende Sinnlosigkeit. Im Rückblick machten viele meiner Entscheidungen keinen Sinn, und ich fand trotz dem tagelangen einsamen Wandern keinen Ausweg. Mein Entschluss stand fest. Ich erklärte Gott, warum ich nicht mehr könne und dass ich beim nächsten LKW, den ich hinter mir höre, einen Schritt nach links machen werde. Den ganzen Morgen kam kein Einziger.«
Am Ende der Reise empfing ihn seine asiatische Freundin. Da warf er beide Handys einfach weg.
Jeder Pilger hat sich aus einer ureigenen Motivation heraus aufgemacht, die sehr tiefe Ursachen hat und schon mit dem ersten Schritt viele neue Erkenntnisse nach sich zieht. Mit diesem ersten Schritt hat er bereits fünfzig Prozent der Arbeit geleistet, er hat sich für einen längeren Zeitraum aus seinem Alltag gelöst, hat trainiert und sich mental auf Strapazen vorbereitet.
Wie im Zeitraffer steht die Wanderschaft für das alltägliche Leben. Sie ist nicht wirklich planbar, nur das Ziel steht fest, der Weg und die Erfahrungen und der Umgang damit nicht. Mit manchen Weggefährten geht man ein Stück gemeinsam und trennt sich wieder. Sei es nur, weil sie ein anderes Tempo haben, einen Tag Pause machen oder sich verletzen. Die geplanten Etappenziele werden oft erreicht, manchmal aber auch nicht. Meist sind es die ungeplanten Aufenthalte, die als besonders intensiv empfunden werden und im Gedächtnis haften bleiben. Gerade an diesen Orten ist es wichtig, zu verweilen und etwas zu erkennen, was den nächsten Schritt ermöglicht. Irrwege gibt es in dieser Perspektive nicht, Umwege schon, und jeder hält eine Antwort bereit.
Ludek — ich werde den Knaben nicht los, aber was soll er erst denken — war schon seit dem frühen Nachmittag in der Herberge in Villafranca de los Barros. Ich hatte nicht im Traum damit gerechnet, auf dieser Strecke so wenigen Menschen zu begegnen. Er fragt mich: »Haben dir meine Wanderstöcke bei der Überquerung des Bachs geholfen?« Er macht die Bewegung eines Skilangläufers, der sich mit den Armen abdrückt, und lächelt smart bei der Vorstellung. Nach dem langen, heißen Tag fühle ich mich zu ausgezehrt, um ihm lang zu erklären, 'dass ich nicht mit dem Stuhl verkettet bin und ich mich einfach aus dem Stuhl herausgehebelt hätte. Ich danke ihm trotzdem im Stillen, weniger für die Tat als für die Gedanken.
Wo ich auch bin, stoße ich auf das austrainierte Kraftpaket, dem alles möglich ist. Er ist nett und hilfsbereit, und unbewusst fühle ich mich in seiner Gegenwart sicher. Er hätte genug Power, mich die Stufen des Eiffelturms
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