Dem eigenen Leben auf der Spur
Überholen gibt er mir eine kleine Temperaturaktualisierung, 46 Grad zeigt das Messgerät an seiner Uhr.
»Ich habe mich für zwei Stunden unter einen Baum gelegt, bei dieser Hitze«, erklärt er mir, als ich mich wundere, ihn hier anzutreffen.
Ich lasse Ludek hinter mir, fliege weiter und denke nur noch an die angeblich neu eröffnete Unterkunft und an ein kühles Bier. Die flimmernde Luft steht still, wahrscheinlich war ich noch nie bei einer solchen Hitze unterwegs. Der heiße Wind bläst mir wie ein Föhn ins Gesicht, das warme Wasser aus der Trinkflasche löscht den Durst schon längst nicht mehr. Weit und breit ist kein Baum in Sicht, der Schatten spenden könnte. Die Weinfelder sind umgepflügten Weizenfeldern gewichen, und der Wind trägt fortwährend feines rötliches Pulver mit. Am Horizont meine ich schon das Ziel zu sehen und rase ungeduldig darauf zu, aber das Dorf will einfach nicht näher kommen. Jetzt ein kühles Getränk, Schatten, ein Badesee, das wär’s.
Die in meinem druckfrischen, erst vor sechs Wochen erschienenen Wanderführer als neue Unterkunft angekündigte Herberge ist geschlossen. Sie gehört dem Herbergsvater von der ehemaligen Ölmühle, wo wir gestern waren, der aber hat kein Sterbenswörtchen verlauten lassen, dass hier geschlossen ist. Wir sind die einzigen Pilger, die sehnsüchtig vor dem ehemaligen Adelspalast aus dem 15. Jahrhundert Einlass begehren.
Überall in Spanien entlang des Jakobswegs gibt es Notunterkünfte. Also rufen wir die Guardia Civil an, die im gleichen Gebäude oberhalb der Wache im ersten Stock einen kargen Raum mit Waschbecken für gestrandete Pilger bereithält.
Als sie mich sehen, disponieren sie jedoch schleunigst um und händigen uns den Schlüssel für die Festhalle am Rand des Dorfes aus. »Cultura y Música« steht auf der weißen Hauswand. Ludek öffnet jedes Fenster in dem muffigen 40 Meter langen und 20 Meter breiten Raum, in dem kleine Wimpel von der Decke hängen. An der gesamten Länge stehen Stühle aufgereiht, und am hinteren Ende des Raumes befindet sich ein Podest, auf dem Schaumstoffmatten liegen. Bei den Waschräumen befinden sich allerdings keine Duschen. Nicht wirklich die Oase, von der ich in der sengenden Hitze geträumt hatte. Wo ist das Bier? Mein Durst ist enorm, während sich der Hunger in Grenzen hält. Als Schüler haben wir bei einer Klassenfahrt einmal ausgerechnet, wie viele Jahresproduktionen der weltgrößten Brauerei mit 150 Mio. Hektolitern Jahresausstoß notwendig wären, um den Bodensee zu füllen. Das Ergebnis weiß ich nicht mehr, aber diese stupide Rechenaufgabe kommt mir wieder in den Sinn, als ich an meinen Durst denke.
Die Musik der Extremadura
»Arbeit macht frei«, ruft Ludek, als wir vom Einkaufen zurückkommen, mit seinem starken Akzent. Und korrigiert sich sofort: »Geld macht frei.« Die Variante muss er sich wohl irgendwann in der Hitze überlegt haben, die kenne ich noch gar nicht. Ich denke kurz nach und erwidere: »Gott macht frei.« Er überrascht mich, als er nach einer Pause antwortet: »Si, gracias.«
Nach dem vierten Bier lege ich eine Sportmatte auf den staubigen Boden, vierzig Meter von Ludek entfernt, der am anderen Ende auf dem Podest schlafen will. Wegen möglicherweise herumlaufender Tiere wäre mir eine Nacht dort oben auch lieber, aber ein Podest ist nun mal ein Podest und hat Stufen davor.
Es klopft. Vor dem Gebäude hören wir Stimmen, sicherheitshalber schieben wir den schweren Riegel vor die Stahltür. Das Klopfen wird eindringlicher, und als wir öffnen, steht eine Gruppe von zwanzig Folkloremusikern davor. Heute sei die wöchentliche Probe und ihr Auftritt finde bald statt, erklären sie resolut, bevor einer nach dem anderen hereinkommt. Bis auf zwei dreißigjährige Frauen ist der Rest der Gruppe deutlich älter. Sie stellen sich uns als »Folklore populae extremeño« vor.
Zehn Sängerinnen und ein Sänger werden begleitet von drei Gitarren, zwei Akkordeons, einer Trommel und einem Glockenspiel. Zwei Dirigenten übernehmen abwechselnd die Leitung. Einer von ihnen ist ganz offensichtlich schwul, und ich frage mich, wie das in einer erzkatholischen ländlichen Gegend wohl ankommt.
Zwischen jedem Stück wird geraucht und lebhaft diskutiert, während wir mit verstaubten Gesichtern und Kleidern der Darbietung lauschen. Die leidenschaftliche Musik drückt sehr viel Kraft aus, zugleich ist sie auf eigentümliche Weise mit der Wehmut gepaart, die dieses Land ausstrahlt.
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