Dem eigenen Leben auf der Spur
jetzt will ich einfach nur genießen, was sich mir darbietet. Der Stausee funkelt dunkelblau, lange führt der Weg genau an ihm entlang. Ich überhole Wanderer, die sehr bedächtig einen Schritt vor den anderen setzen. Die Spur führt weiter, durch Olivenhaine und an eingezäunten Schweinen und Rindern vorbei. Hinter brusthohen Steinmauern lugen sie herüber.
Freundliche Aufnahme durch die Dorfbewohner
Als ich an einer Kirche erstmals ein Templerkreuz unter den gelben Wegpfeilen aufgemalt sehe, wähne ich mich bereits am Ziel. Plötzlich spüre ich einen mächtigen Hunger und Durst, viel habe ich heute noch nicht gegessen. Die Reparatur hat mich den gesamten Wasservorrat gekostet, und nach einem Blick in meinen Wanderführer stelle ich fest, dass die Herberge noch eine gute halbe Stunde Marsch entfernt ist. Wie ein Verdurstender in der Sahara schleppe ich mich weiter.
Als handelte es sich um eine Fata morgana, sehe ich im nächsten Moment einen Bauer am Wegrand, der zwei Eimer mit frischen Weintrauben vor sich hingestellt hat. Ich muss mich kneifen, denn hier kommt bestimmt nicht oft jemand vorbei.
Er trinkt ruhig Wein und hält mir geradezu gütig lächelnd eine Rebe hin. Gierig verschlinge ich sie und spüre, wie die Kraft zurückkehrt. Den Wein lehne ich dankend ab, ich bin glücklich in meinem Zuckerrausch.
Ein kleines Wunder. Als ich mich auf der nächsten Anhöhe noch einmal umdrehe und zurückblicke, ist er verschwunden.
Vor der Herberge in Aljucén befinden sich drei Stufen, und das Erste, was ich von Ludek höre, ist die Frage: »Warum hast du so lang gebraucht?« Seelenruhig lehnt er sich aus einem Fenster und unterhält sich in seinem frischen Freizeitoutfit mit mir. Sein Rucksack muss einen Zentner wiegen, er hat mindestens vier Garnituren zum Wechseln dabei. Ich erzähle von meinem »Pinchazo«, dem Platten, aber das interessiert ihn gar nicht. Gnädig lässt er sich herab, mir die Stufen hinaufzuhelfen.
Ich komme mir wie in Mekka vor. In der Herberge befindet sich ein Automat mit kalten Getränken und Snacks! Am liebsten möchte ich alles gleichzeitig erledigen: duschen, Kleider waschen, damit sie in den letzten Sonnenstrahlen noch trocknen, und vor allem etwas Kühles trinken. Ich füttere den Automaten nonstop mit Münzen und lasse Süßigkeiten, alkoholfreies Bier, Eistee, Cola heraus.
Schon kurz darauf fühle ich mich wie ausgewechselt. Später erreicht auch das neue Pilgerpärchen das Ziel, und wir teilen uns auf die drei Räume auf.
Elena, die Herbergsmutter, ist überrascht, jemanden wie mich zu sehen.
»Ich führe die Herberge zusammen mit meiner Freundin nun schon eine ganze Weile«, erzählt sie. »Ich habe schon viele kommen und gehen sehen. Einmal hatte ich einen Gast, der nur noch ein Bein hatte, aber jemanden im Rollstuhl noch nie. Ich schenke dir die Übernachtung, weil vor der Tür Stufen sind.«
Ich bedanke mich bei ihr und verfüttere den Gegenwert der Übernachtung schnurstracks in den Getränkeautomat, für mich ein einarmiger Bandit, um an noch mehr alkoholfreies Bier zu gelangen.
Ludek und ich verabschieden uns bald darauf und feiern unsere Trennung in der Bar, einen Steinwurf von der Casa Elena entfernt. Morgen will Ludek schon wieder vierzig Kilometer marschieren, während ich nach einer kürzeren Wegstrecke bei der Congregación de los Hermanos de María y de los Pobres übernachten möchte.
Ludek hat in Mérida Telelotto gespielt und 80 Euro gewonnen. Jetzt lädt er mich zu einem Bier ein. Wir sitzen entspannt unter Palmen auf der Terrasse vor der Bar, hinter uns unterhält ein Engländer eine Spanierin in seiner Landessprache.
Gefährliche Euphorie
Besorgt blicke ich am nächsten Morgen meinen »Aktiv-Rollstuhl mit extra verhärtetem Rahmen« an, als ich das leichte Nachgeben des Materials spüre, während ich die drei hohen Stufen vor der Herberge hinabruckle. Ludek ist schon weg, das Pilgerpärchen schläft noch. Ich freue mich über die bevorstehende kurze Etappe, für die allerdings eine heftige Steigung angekündigt ist. Sei’s drum, sage ich mir, Zeit habe ich heute genug. Schließlich mache ich hier bei keinem Wettrennen mit und habe mehr Zeit für die gesamte Strecke eingeplant als Ludek für seine.
Als ein Spanier in einem verdreckten Kombi hinter mir hält, befallen mich für einen Moment Zweifel, ob ich nicht auf einem Trip hängen geblieben bin. Wer weiß, vielleicht hört die Wirkung der Camino-Droge nicht mehr auf und
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