Dem eigenen Leben auf der Spur
ich erlebe die Realität anders? Seit Stunden durchquere ich einen Naturschutzpark, ohne auch nur ein einziges Lebewesen gesehen zu haben, und plötzlich steigt hinter mir ein Spanier aus seinem Auto aus. Verkehrte Welt, denke ich, zu verblüfft, ihn zu fragen, wo er denn herkomme.
Er plappert direkt los und weist mich daraufhin, wie steil der Weg wird. Seine Handbewegung beschreibt etwa einen 50-Grad-Winkel. »Das schaffst du nie, besonders nicht mit den kleinen Reifen da vorne«, fügt er fachmännisch hinzu. Seine Kompetenz verblüfft mich. Mein Wanderführer hat mich zwar ebenfalls gewarnt, aber es soll sich ja nur um ein kurzes Stück handeln. »Es ist kein kurzes Stück«, korrigiert er mich, »außerdem kommst du nicht über die Felsbrocken.«
Wer um Himmels willen hat diesen Mann denn jetzt hergeschickt, frage ich mich, bevor ich zögernd sein Angebot annehme, mit ihm den Berg zu umfahren und mich direkt dahinter wieder absetzen zu lassen.
In einem großen Bogen weichen wir der Steigung aus, wobei der Unterboden oft über Steine schleift, bevor wir aus dem Park heraus auf eine Landstraße kommen. Wieder muss ich erklären, warum ich den Weg allein gehe, dass er ein großes Geschenk ist und ich bestimmt nicht verrückt bin. »El Camino es un regalo«, nickt er zustimmend.
In einer Bar an meinem ursprünglich avisierten Etappenziel, bei — der Congregación de los Hermanos, überlege ich mir die weitere Tagesplanung. Nach jedem Bier werde ich euphorischer, gleich noch eine Etappe dranhängen zu können.
Vor ein paar Tagen habe ich damit aufgehört, nur alkoholfreies Bier zu trinken, da ich mich ausgezehrt fühle und nach jeder Kalorie lechze. Natürlich weiß ich, dass diese Alkoholkalorien nur einen Kredit mit Wucherzinsen darstellen, weil ihr Abbau letztlich sogar mehr Kraft kostet, als er anfänglich gegeben hat. Es ist ein bisschen wie beim Fliegen: nach Verlassen der komfortablen Reiseflughöhe holpert es beim Landen...
Es erweist sich als Fehler, an diesem Mittag weiterzugehen. Wie eine Notunterkunft aussieht, habe ich bereits vor zwei Tagen erfahren dürfen. Würde ich jetzt sehenden Auges wieder in eine solche hineingeraten? Ich bete für eine gute Unterbringung und eine perfekte Schlafgelegenheit und gehe weiter. Eine Art Bonusetappe, versuche ich mir die Dinge in meinem Kopf zurechtzubiegen.
Die Luft unterwegs ist geschwängert mit süßlichen Gerüchen. Wilde Minz- und Anissträucher, die ihren Duft verströmen, stehen am Wegrand, so hoch, dass sie mich im Sitzen überragen. Ich muss an Bonbonstände auf dem Weihnachtsmarkt und Mojitos in der Roten Bar in Frankfurt denken, aber der Duft hier ist kräftiger, würziger. Die umliegenden Weideflächen wurden brandgerodet, der stechende Rußgeruch hängt wie ein Schleier über dem Boden und vermischt sich mit dem Duft der Kräuter.
Ich schwebe dahin, genieße die Nachmittagskühle und könnte glücklicher nicht sein. Die Gedanken sind so weit wie der Himmel, und alles scheint hier und jetzt möglich zu sein. 2000 Jahre Geschichte wehen mir entgegen, immer wieder sehe ich Ausgrabungsstellen mit dem historischen Originalpflaster oder römischen Meilensteinen.
Dann der Schock. Die Notunterkunft ist ein Dreckloch. Sie besteht aus einem dunklen, staubigen Raum, der noch nie geputzt worden zu sein scheint. Das mit einer Jalousie verdunkelte Fenster lässt sich nicht öffnen, da diese Seite des Raumes mit alten Möbeln voll gestellt ist. Alles ist mit einer fingerdicken Staubschicht überzogen, die Rollstuhlräder ziehen deutliche Spuren durch den Staub auf dem Boden. Es liegen auch keine Matratzen oder Sportmatten herum, sondern lediglich Kartons, ehemalige Umzugskisten.
Auf hartem Boden zu schlafen ist mir ohne irgendeine Form der Polsterung nicht möglich. Die Warnsignale flackern wild, als ich mich an Rollstuhlfahrer mit faustgroßen Druckstellen in der Klinik erinnere. Die Haut ist an diesen Stellen über dem Knochen aufgrund von zu hoher Druckbelastung und mangelndem Schmerzempfinden einfach abgestorben. Meist sind diese Stellen dunkelrot mit einem kleinen, unscheinbaren schwarzen Punkt in der Mitte. Das bedeutet, dass unter dem oberflächlich intakten Gewebe bereits abgestorbene Zellen lagern, die nicht abtransportiert werden. Eine Kettenreaktion, die oft in einem langen Klinikaufenthalt mündet.
Hier blendet nur die Fassade (trotz Rampe)
Das soll ich riskieren? Bestimmt nicht. Hier bleibe ich nicht. Das steht fest, bevor ich
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