Dem eigenen Leben auf der Spur
Der gleichförmige Rhythmus der tragenden Instrumente lässt die klaren Frauenstimmen leuchten. Sie klingen wie der heiße, trockene Atem der Extremadura, und gerade aus ihnen strömt die Lebenskraft hervor. Sie ziehen uns in ihren Bann und nehmen uns mit auf die Reise über das rot-braune, trockene Land. In Gedanken lasse ich die letzten Tage Revue passieren. Wie viel man doch über ein Land lernen kann, wenn man es durchschreitet, denke ich. Besonders in ländlichen Regionen, in denen Menschen sich den Einflüssen der Natur aussetzen müssen, prägt das Land die Gedanken. Diese Töne treffen genau in mein Herz und ich verliebe mich. Extrema dura — ist es das, worin ich mich wiederfinde?
Eine Frau in Rot gefällt uns besonders. Ihre Stimme klingt zwischen den anderen hervor, und sogar Ludek kramt seine Einwegkamera hervor und macht einige Fotos.
Ich bin froh, als ich um sechs Uhr aufwache. Die Nacht auf der Sportmatte war hart und lädt kein bisschen dazu ein, weitere Minuten liegen zu bleiben. Die Klänge des Abends summen in meinem Kopf jedoch weiter und stimmen mich mild. Egal wie schlecht die Nacht auch war, vor Freude auf den kommenden Tag könnte ich gleich loshüpfen. Gott macht frei.
Laut fällt der Schlüssel auf den Steinfußboden der Polizeiwache, als wir ihn weisungsgemäß durch das offene Fenster werfen. Wieder einmal ist es stockdunkel, die Cafés sind jedoch bereits mit Arbeitern gefüllt, die uns kaum beachten. Wie angenehm, wenn ich allein unterwegs bin, erhalte ich fast immer mehr Aufmerksamkeit. Als ob der Betrachter die Begleitperson suchen würde.
Die Aussicht, heute das Rom Spaniens zu sehen, treibt mich an. Die erste große Stadt seit einer Woche, und ich werde sie als Tourist durchstreifen. Vielleicht kann ich sogar meinen Schlafsack reparieren lassen.
Die 600 Meter lange Römerbrücke über den Rio Guadiana lässt mein Herz höher schlagen. Wann bin ich schon einmal über eine so lange antike Brücke gegangen? Bedächtig nähere ich mich der Stadt.
In Mérida merke ich, dass ich nicht nur nicht wie ein Tourist aussehe, beim Einkauf von neuem Verbandszeug in der Apotheke wird mir schlagartig bewusst, dass ich auch nicht wie einer rieche. Zumindest die Handschuhe hätte ich besser vor der Tür liegen gelassen. Bin ich Pilger oder Penner? Rein optisch wäre das gar nicht so leicht zu entscheiden...
Gesprächsfetzen auf Englisch und Deutsch fliegen zu mir herüber. Als Tourist hätte ich Mérida vermutlich nicht extra aufgesucht, aber die Stadt sozusagen als Geschenk im Vorbeigehen präsentiert zu bekommen, erfüllt mich mit tiefer Dankbarkeit. Der Diana-Tempel, das große Amphitheater, eigentlich alles erinnert an Rom. Vielleicht sollte ich einmal nach Rom pilgern? Nach meiner Logik will ich allerdings nur Pilgerwege beschreiten, bei denen ich das Ziel noch nicht kenne. Bliebe also noch Jerusalem. Egal, jetzt bin ich hier, und bis Santiago liegen noch über 800 Kilometer vor mir.
Nach ein paar Stunden Besichtigung stehe ich vor der Wahl, den Tag hier geschichtsträchtig ausklingen zu lassen, oder noch ein paar Stunden weiterzuwandern. Ich schiebe die Entscheidung auf und trinke erst einmal ein Bier auf dem Marktplatz.
Mir fällt eine Anekdote aus den USA ein, die mich noch immer so amüsiert, dass ich lauthals lache. Der Kellner hinter dem Tresen schenkt mir einen verwirrten Blick. Ein Professor an der Uni nahm eine leere Vase aus Glas, schwenkte sie in der Luft und fragte, ob sie leer sei.
»Ja, sie ist leer, vielleicht ist sie mit Luft gefüllt«, antworteten wir. Er nahm etwa walnussgroße Kieselsteine und füllte die Vase damit. Dann wiederholte er seine Frage.
»Ja, jetzt ist sie gefüllt«, antworteten wir brav und fragten uns, worauf er hinauswollte. Dann ließ er Sand hineinlaufen, der sich zwischen den Kieseln verteilte und die Zwischenräume auffüllte. »Und jetzt, ist sie jetzt voll?« Seine Augen leuchteten.
Als wir bejahten, führte er mit leuchtenden Augen aus: »Die Vase ist euer Leben und die Kieselsteine sind die wichtigen Dinge darin, eure Familie, Freunde, euer Beruf und eure Gesundheit. Sie füllen euer Leben an. Der Sand steht für die kleinen Dinge, die nur die Zwischenräume füllen, die Steuererklärung, Stress im Büro oder eine schlechte Note an der Uni. Fokussiert euch auf das Wesentliche, auf die Steine, mit denen euer Leben schon wirklich ausgefüllt ist.«
Sehr amerikanisch, aber gut, dachte ich damals und fragte ihn, ob ich etwas hinzufügen
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