Dem eigenen Leben auf der Spur
noch die Kakerlaken in dem versifften Bad sehe. Ausschließlich der großflächige Einsatz von Salzsäure hätte hier geholfen, und dann wäre es immer noch muffig gewesen; um wirklich sauber zu sein, hätte alles von Grund auf renoviert werden müssen.
In dem Ort gibt es noch ein Hotel, das wusste ich von meinem spanischen Wanderführer. Weiterzugehen ist um halb sieben Uhr keine wirkliche Option, und ein Taxi in den nächsten Ort zu nehmen auch nicht.
Das Hotel ist geschlossen. Ich bin so verblüfft, dass ich nur noch lachen kann. Die Situation ist zu grotesk. Also gehe ich zu der Bar zurück, in der ich den Schlüssel für die Notunterkunft bekommen habe und frage, ob es noch eine andere Übernachtungsmöglichkeit gebe. Schulterzucken. »Wenigstens eine Matratze?« Nach langem Hin und Her bekomme ich eine.
Natürlich freue ich mich kein bisschen auf die Nacht. Am Tresen der Bar ertränke ich den letzten Widerwillen gegen das Quartier mit Garvey, einem spanischen Brandy Ich sehe mich hier ganz klar als ein Opfer von Werbung. Vor einigen Tagen hatte ich einen Spot mit einem smarten Typen und einer eleganten Frau im Fernsehen gesehen. Natürlich trank er cool lächelnd Garvey. Ob er wohl auch in so einem Dreckloch hauste? Wahrscheinlich nicht. Hoffentlich ist das nach ein paar von den Dingern irrelevant.
2 AUFPRALL
M ein neunter Wandertag.
Ich fühle mich ausgelaugt, der rechte Handballen schmerzt. Leise begleitet mich das Quietschen des Lagers am linken Vorderrad.
Ich muss an den französischen Film »Hass« denken. Im Vorspann des Films, der in einem französischen Getto spielt, erzählt der Sprecher: »Dies ist die Geschichte einer Gesellschaft, die aus dem 50. Stock eines Hochhauses sprang. Um sich zu beruhigen, verkündet sie bei Erreichen eines jeden Stockwerks: >Bis hierher ist es noch gut gegangen, bis hier ist es noch gut gegangen...< Aber wichtig ist nicht der Fall, sondern der Aufprall.«
Der 24. Mai 1993 war ein sonniger Tag. Ich war auf meiner Kawasaki LTD 440 unterwegs und verließ Berlin ostwärts in Richtung Polen. Das schriftliche Abitur war geschafft, und vor der großen Abifeier wollte ich zusammen mit meinem Freund Ingo für ein paar Wochen auf einer ehemaligen LPG arbeiten. Ich fand die Idee bestechend, nach der intensiven Lernerei einige Zeit an der frischen Luft zu verbringen.
Auf dem Weg aus der flirrend heißen Stadt hinaus verfuhr ich mich ständig und war wütend über die miserable Wegbeschreibung, die mir mein Bruder mitgegeben hatte. Aber die Autobahn war neu, es war wenig los und ich freute mich darauf, bald mit Ingo gemeinsam auf dem Motorrad durch die Gegend zu fahren, die langen Haare im Wind wehen zu lassen und das zu spüren, was man in diesem Alter für grenzenlose Freiheit hält.
»Wir müssen ihm die Lederjacke aufschneiden.« Ich liege zwischen den Leitplanken, blicke in den Himmel und höre das Gespräch von zwei Männern in Warnwesten. Ich will aufstehen und protestieren, merke aber gleich, dass das nicht geht. Meine Beine gehorchen nicht. Mir ist sofort klar, was passiert ist. Der Rettungshelikopter steht auf der Wiese neben mir, um mich herum erfüllt ohrenbetäubender Lärm die Luft. Für meinen ersten Flug im Hubschrauber hätte ich mir eine bessere Gelegenheit aussuchen können, denke ich noch, dann wird um mich herum alles schwarz.
Wie es zu dem Unfall kam, weiß ich bis heute nicht. Ich komme mit einer beidseitigen Lungenkontusion davon, einer schweren Quetschung der Lunge, schwebe lange in Lebensgefahr und verbringe mehrere Wochen auf diversen Intensivstationen der Hauptstadt. Es ist das erste Mal in meinem Leben, dass ich ein Krankenhaus als Patient von innen erlebe.
Die stickige Klinik in Steglitz hat keine Klimaanlage. Jedes der mickrigen Krankenzimmer wird durch einen dünnen Vorhang zweigeteilt, auf der anderen Seite des Raumes liegt ein weiterer Schwerverletzter, den ich nur hören, aber nicht sehen kann.
»Erinnert ihr euch noch an den stöhnenden Patienten gestern«, frage ich meine Eltern und blicke in ihre ratlosen Gesichter, »der ist gestern Nacht gestorben.« Ich bin zwar wie betäubt von den schweren Schmerzmitteln und erst seit wenigen Tagen aus dem künstlichen Koma erwacht, aber ich will sie provozieren: Eigentlich wollte ich mit dem Satz über mich selbst gesprochen haben, aber das schaffe ich nicht.
Natürlich sagen sie nichts, ich spüre nur ihre Verzweiflung, gepaart mit völliger Hilflosigkeit. Sie sitzen auf ihren
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