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Dem eigenen Leben auf der Spur

Dem eigenen Leben auf der Spur

Titel: Dem eigenen Leben auf der Spur Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Felix Bernhard
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leider nicht. Früher setzte ich mich, wenn ich Kummer oder Arger verspürte, auf mein Motorrad, und schon beim Anlassen des Motors entspannten sich meine Gesichtszüge. Spätestens nach einem Kilometer war ich glücklich im Hier und Jetzt.
    Born to ride, eigentlich dachte ich dabei an die zwei Räder eines Bikes und nicht an die vier Räder eines Rollstuhls.
     
     

Der zweite Flug mit dem Helikopter
     
    Nach der Stabilisierung meines Zustands steht meine Verlegung in eine Spezialklinik an, um mit der Rehabilitation zu beginnen. Meine Eltern waren durch das gesamte Bundesgebiet gereist und stellen mir eine Handvoll Kliniken vor. Ich entscheide mich für die Werner-Wicker-Klinik in Bad Wildungen, die die modernste zu sein scheint. »Sie hat auch einen so netten Speisesaal, der aussieht wie eine Skihütte«, bemerkt meine Stiefmutter in einem Versuch, ein bisschen Zuversicht zu verbreiten.
    Wieder ist es ein sonniger Tag, als ich Berlin verlasse. Sobald der Helikopter abhebt und ich meinem Bruder aus der Luft zuwinke, schluchze ich laut auf. Zum ersten Mal seit Wochen werde ich auf mich allein gestellt sein. Was wird mich erwarten?
    Wir fliegen über grüne Wiesen und Wälder, hier gibt es anscheinend nichts außer Natur. Ich fühle mich schutzlos und nackt. Von nun an wird alles anders sein, als ich es bisher gekannt habe, kein antrainiertes Verhaltensmuster wird mehr passen. Mein Zuhause wird nun für unbestimmte Zeit die Station A3 der Wicker-Klinik sein.
    Ich stehe mit meinem Bett auf einem dunklen Flur, während draußen die Sonne scheint. Ein dicker Pfleger ruft quer über den Gang: »Ich habe Durst wie ein Pferd.« Wenig später reicht mir genau dieser Mensch ein Tablett mit meinem Mittagessen, das ich zwischen dem an mir vorbeiflitzenden Pflegepersonal in weißer Hose und weißer Jacke zu mir nehme. Gelegentlich vernehme ich ein Quietschen von Gummisohlen auf dem Linoleum, es klingt ein bisschen wie bei meinem letzten Basketballspiel im Grundkurs Sport vor gar nicht so vielen Wochen.
    Nach gut einem Monat Bewegungslosigkeit bin ich inzwischen so schwach und abgemagert, dass ich nicht einmal den Schraubverschluss der Wasserflasche ohne Hilfe öffnen kann.
    Mein Zimmer sei noch nicht fertig, heißt es. Was ist denn da fertig zu machen, frage ich mich, man muss doch nur das rollende Bett hineinschieben. Aber ich sage nichts, lieber vergieße ich ein paar heimliche Freudentränen über das Fax, das mir mein Bruder aus Berlin geschickt hat.
    Ich befinde mich jetzt in einer Maschinerie, die sich sehr langsam bewegt und die mir viel Zeit und Stillstand verordnet, ob ich will oder nicht. Hier lerne ich zu warten, denn immer warte ich auf irgendetwas, einen Arzt, ein Laborergebnis, eine Untersuchung, eine Behandlung. Ein falsches, ungeduldiges Wort nach stundenlangem Warten zieht sofort den Zorn der Schwestern auf sich. Als ob sie mir zu verstehen geben wollten: »Warum so ungeduldig, was hast du denn sonst zu tun?«
    In dem großen Raum liegen noch drei weitere Männer. Wir haben eine breite Fensterfront, mit Blick direkt auf einen kleinen, waldigen Hügel. Er ist vielleicht 300 Meter hoch, übt jedoch sofort eine große Anziehungskraft auf mich aus. Im Geiste wandere ich querfeldein, zwischen den Bäumen hindurch bis zur Kuppe hinauf.
    Stundenlang starre ich mit Tränen in den Augen auf die Anhöhe. Immer wieder holen mich die gleichen verquälten Gedanken ein: Vor kurzem noch bin ich durch unberührtes Hochgebirge in Nordspanien gewandert, und jetzt liege ich hier in brütender Hitze unter einem dünnen Betttuch. Draußen ist Sommer, und meine Schulkollegen sind in den Abiturferien und genießen ihre Jugend, die für mich abrupt beendet ist.
    Stattdessen muss ich, ob ich will oder nicht, meine Zimmernachbarn auf intimste Weise kennenlernen. Wir verbringen praktisch 24 Stunden gemeinsam auf engstem Raum. So etwas wie Schamgefühl kann man sich hier nicht leisten. Ärzte und Schwestern finden es überhaupt nicht ungewöhnlich, mich zur Untersuchung oder zur Behandlung längere Zeit nackt auf dem Bett liegen zu lassen, während sie nebenher persönliche Dinge besprechen. Privatsphäre ist für uns Patienten ein Fremdwort, Arztvisiten, Besuche und sämtliche Telefonate, alles findet auf 30 Quadratmetern statt.
    Am schlimmsten sind die Chefarztvisiten. Sechs Personen in Weiß stehen dann um ein Bett herum: Chefarzt, Oberarzt, Stationsarzt, Pflegedienstleitung, Schwester und Physiotherapeut. Der Patient wird als

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