Dem eigenen Leben auf der Spur
geschweige denn vor die Tür. Aber so ist es leicht. Frische Luft, ein weiter Blick, Bewegung warten auf mich.
Ein Mitpilger hilft mir die lange schmale Außentreppe der zentral gelegenen Herberge am Plaza de España hinab, während wir von einigen dort sitzenden Spaniern genau beobachtet werden.
»Carbrones«, flucht er, »sie könnten uns ruhig helfen, anstatt wie im Kino dazusitzen.«
Tatsächlich beobachten sie uns mit einem Gleichmut, als ob sie vor wenigen Minuten einen Tranquilizer eingeworfen hätten. Mit langsamen Bewegungen führen sie ihre Zigarette zum Mund und lassen die Blicke auf uns ruhen. Ihre Unterhaltung ist verebbt.
Die steile Treppe mit ihren zu kurzen Stufenabsätzen hat es in sich. Ihr Ende ist in der Dunkelheit kaum auszumachen, und der auf den Hinterrädern balancierte Stuhl wankt bei jeder Stufe vor und zurück.
Nicht loslassen!, übe ich mich zur Abwechslung mal in telepathischen Beschwörungen und versuche, dem ungeübten Helfer hinter mir fest zu vertrauen. Was passiert, wenn er stolpert oder ein Haltegriff am Rollstuhl abbricht? Keine besonders hilfreichen Gedanken in diesem Moment und an diesem frühen Morgen.
Es ist kühl, die Bars sind gefüllt mit Menschen, die mich anstarren, wie ich auf der kleinen Straße Richtung Ortsausgang vorbeirausche. Oft erinnern mich die bohrenden Blicke an die besondere Form meiner Fortbewegung und zwingen mich gewaltsam in die Realität zurück.
Unmittelbar nach den letzten Häusern des kleinen Ortes endet die schwarze geflickte Asphaltstraße. Ab jetzt sind meine Wahrnehmungen reduziert auf Staub, braun, gelb, hart und trocken. Dazu kommen das Knirschen unter den Rädern, die Gerüche und das wechselnde Wetter, die wieder zu festen Bestandteilen meiner Pilgerreise geworden sind, wie schon bei meinen früheren Wanderungen.
Von der ersten Anhöhe aus erkenne ich in weiter Ferne die einzige Spur der Zivilisation. Cañaveral, mein Tagesziel, hebt sich in den ersten Sonnenstrahlen von einem Bergrücken ab. Der Ort scheint zum Greifen nahe, mit einem Auto wäre die Distanz in einer halben Stunde zu bewältigen. Ich benötige dafür mindestens einen Tag.
Kühe starren mich an, ich unterhalte mich damit, eine gewisse Ähnlichkeit mit den unverhohlenen Blicken der Dorfbewohner heute morgen zu erkennen. Ich muhe sie an, keine Reaktion. Stille. »Venga«, »auf geht’s, los«, rufe ich, aber es blicken nur ausdruckslose Gesichter mit mahlenden Kiefern konsterniert zurück. Vielleicht sollte ich das nächste Mal einen Hund mitnehmen, dann habe ich jemanden um mich, der auf mich eingeht und mich vielleicht sogar die Berge hochzieht.
Eine Gruppe von acht spanischen Radfahrern hält an. Ich sitze auf dem steinigen Boden am Wegrand und pumpe Luft in den platten Reifen. Er verliert langsam Luft, aber ich habe keine Lust, ihn zu flicken, solange es auch mit gelegentlichem Aufpumpen getan ist. Sie wollen helfen, und einer von ihnen pumpt keuchend ein paar extra Bar in den Schlauch. Schon gestern haben sie meine Spuren gesehen, konnten sich aber auf die parallelen Spuren keinen Reim machen. Das scheint typisch für Radfahrer zu sein, denke ich und erinnere mich an die Begegnung vom ersten Tag.
Schnell noch ein pixeliges Foto mit der Handy-Kamera, und sie fahren winkend und so schnell, wie sie gekommen sind, weiter.
Mir fällt auf, dass die Mehrzahl der Pilger, die auf der Vía de la Plata unterwegs sind, aus Spanien kommen. Es scheint eine enge Bindung der Spanier zu ihrem Land zu bestehen.
Der Weg zwischen den Feldern ist hart und eben, der Blick erstreckt sich über hügelige Weidelandschaft bis zum Horizont. Die Flächen sind abgegrast, sie sind entweder stoppelig grün oder braun verbrannt.
Tierische Zaungäste
Die Umgebung ist nicht spektakulär, verkommt aber auch nicht zur bloßen Kulisse. Es ist eine Landschaft, die zum Singen einlädt, weil sie keine besondere Konzentration für den Weg einfordert. Eine Reise nach innen, ermöglicht durch eine Reise im Außen.
Römische Meilensteine stehen versteckt in Grassenken. Kein besonderes Schild weist auf die tonnenschweren Wegmarkierungen oder auf die historische Bedeutsamkeit der jahrhundertealten, ausgeschliffenen Spur hin, die so lange Zeit nur Füßen und Hufen gehört hat und erst viel später dann Rädern. Diese Beiläufigkeit gefällt mir.
Im Comic würde Obelix die Meilensteine wegtragen
Abrupt hört der ruhige Weg auf. Auf einer stark befahrenen Nationalstraße geht es steil
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