Dem eigenen Leben auf der Spur
»Fall« in der dritten Person besprochen, es wird getan, als ob er selber überhaupt nicht anwesend wäre: »Nein, er darf sich während der nächsten Wochen auf keinen Fall aufstützen, damit die Fraktur vollständig verheilt.« Keine Begrüßung, kein Auf Wiedersehen, nach der Aufzählung der medizinischen Fakten geht es weiter zum nächsten Bett. Dasselbe Spiel findet sogar vor einem leeren Bett statt, wenn sich der Patient gerade bei einer Untersuchung befindet. Der Chefarzt guckt dann beim Sprechen so intensiv auf das Bett, als könne er mit seiner bloßen Vorstellungskraft den Patienten hineinlegen. Wer weiß, vielleicht wäre der Job mit mehr Empathie nicht zu bewältigen und ohne Abgrenzung auf Dauer selbstzerstörerisch.
Bleiben also die gut gemeinten Blumensträuße, die uns die Besucher reichlich bringen. Leider können sie an der unpersönlichen Atmosphäre nichts ändern. Die mit Desinfektionsmitteln geschwängerte Luft tut ein Übriges, um das Aufkommen einer anderen als der Krankenhausatmosphäre zu verhindern. Wahrscheinlich sollte ich jedoch die Keimfreiheit dankbar bejubeln, schließlich liegt mein Immunsystem völlig am Boden.
Die Stimmung schwankt zwischen lethargisch, schicksalsergeben und latent aggressiv. Jeder von uns will sich gegen dieses bevormundende Umfeld auflehnen, aber der Impuls reicht nicht weiter, als überempfindlich jede Regung zu registrieren und jeden Satz von den Schwestern und Pflegern mit einem Spruch zu kommentieren.
Der schwergewichtige Pfleger und ich werden zu Feinden. Er mag meine langen Haare nicht. Die jungen Schwestern und die noch jüngeren Schwesternschülerinnen finden sie dagegen süß und wollen nicht, dass sie abgeschnitten werden, auch wenn das mit einem höheren Pflegeaufwand verbunden ist. Vielleicht mögen sie mich auch, weil ich der Jüngste auf der Station bin. An meinem Sexappeal wird es bestimmt nicht liegen, hilflos, abgemagert auf 65 Kilo und mit Zahnspange im Mund sehe ich eher aus wie der leidende Christus am Kreuz in kieferorthopädischer Behandlung. Die Spange wird jedoch bald wieder entfernt, es besteht erst einmal genügend Korrekturbedarf am und im übrigen Körper.
Meine Zimmernachbarn sind schräge Vögel, noch nie habe ich mich zuvor in einem solchen Umfeld aufgehalten. Alle haben ihre ganz spezielle Unfallgeschichte, aber Karl-Heinz, genannt Kalle, vermutlich die bizarrste. Eines Nachts war er vor dem Fernseher eingeschlafen, auf dem Weg ins Bett stolperte er später über die heruntergefallene und auf dem Boden liegende Fernbedienung. Er stürzte dabei so unglücklich, dass er sich das Genick brach und das Rückenmark im Halswirbelbereich quetschte. Er redet kaum, sondern stiert ununterbrochen auf den Fernseher. Sogar wenn er schläft, sind seine geschlossenen Augen auf die Mattscheibe gerichtet. Für den Fall, dass er beim Liegen zu der abgewandten Seite schauen muss, hat er einen Handspiegel auf seinem Beistelltisch positioniert.
Bei vollständiger Beleuchtung und einem über Zimmerlautstärke hinausgehenden Geräuschpegel bleibt mir gar nichts anderes übrig, als zu lernen, mit Ohropax zu schlafen. Ich absolviere meine dreimonatige Grundausbildung nicht im Schlamm, sondern im Krüppelheim, so fühle ich mich. Beim Bund kann man abhauen, hier komme ich ohne Hilfe keinen Schritt weit.
Waschen, tupfen, pflegen
Der Krankenschwester meine ich gleich die geborene Helferin anzusehen. Sie sieht gut aus, hat liebe, sanftmütige Augen, feuerrot gefärbte schulterlange Haare und ein paar Kilo extra auf den Hüften.
Sie begrüßt mich: »Hallo, ich bin Connie und für dich zuständig«, nimmt dann die Decke zur Seite und beginnt mich zu waschen. Sie schüttet dabei eine giftgrüne Waschemulsion in eine silberne, mit warmem Wasser gefüllte Schale, nimmt einen Waschlappen und streicht mir über die Haut. Die Seifenreste wischt sie mit einem Handtuch weg.
Das hätte ich mir nie vorstellen können, in einer neutralen Situation völlig nackt vor einem gleichaltrigen Mädchen zu liegen und im Intimbereich gewaschen zu werden. Das Waschen dauert nicht lange, aber anstatt mich wieder zuzudecken, rennt sie plötzlich aus dem Raum.
Ich kann und will nicht so tun, als sei es das Normalste von der Welt, vor drei fremden Männern und jedem, der in den Raum kommt, nackt dazuliegen. Schon stürmt sie wieder mit einem Karton Desinfektionsmitteln und sterilen Handschuhen unterm Arm ins Zimmer zurück. Sie reißt den Karton auf und
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