Dem eigenen Leben auf der Spur
schüttet Desinfektionsmittel in einen kleinen Behälter mit Tupfern. Völlig unvermittelt greift sie nach meinem Penis, streift die Vorhaut zurück und streicht mit den Tupfern über die Eichel. »Ich muss dich jetzt katheterisieren, weil dein Dauerkatheter entfernt wurde. In wenigen Wochen kannst du das allein, aber zunächst machen wir das hier viermal am Tag.« Das letzte Mal würde die Prozedur jeweils um Mitternacht stattfinden.
An eine durchgehende Nachtruhe ist nicht zu denken, denn um vier Uhr morgens kommt die Nachtschwester, die uns alle umlagert, um Druckstellen der Haut zu vermeiden. Wir werden gezwungen, im Vier-Stunden-Rhythmus eine andere Position einzunehmen.
Und ich bin dankbar dafür. In Berlin gaben die Pfleger aus falschem Mitleid meinem Gejammer nach und erlaubten mir, zu lange auf dem Rücken zu liegen. Dabei drückte der Schlauch einer Dränage auf eine Hautstelle am Schulterblatt, die dadurch abstarb. Eine pflaumengroße Druckstelle, die partout nicht mehr heilen wollte. Mit Hilfe einer Operation wurde die Stelle schließlich geschlossen. Die Spätfolgen sind heute eine Skoliose, eine schlechtere Sitzhaltung und eine ungleichmäßig entwickelte Schultermuskulatur bei mir.
Connie will in Berlin studieren und nur noch ein paar Monate hier arbeiten. Wir verstehen uns blendend, haben den gleichen Musikgeschmack und auch beide Abitur. Eine Gemeinsamkeit, der ich anfangs überhaupt keine Bedeutung beimesse. Das Motto meines Jahrgangs war »Abi Tour«, und jeder bekam zur Feier ein T-Shirt, auf dem die zwei Worte in Großbuchstaben aufgedruckt waren. Ich denke bei Tour natürlich an eine große Rock-Welttournee und trage das T-Shirt deshalb auch jetzt auf der Station andauernd.
Die übrigen Schwestern reagieren äußerst reserviert auf mich, und endlich erklärt mir eine von ihnen, weshalb: »Felix, du musst nicht dauernd heraushängen lassen, dass du Abi hast!«
Völlig verblüfft lasse ich das T-Shirt im Schrank verschwinden. Mit den Pflegekräften will ich es mir bestimmt nicht verscherzen! Auf ihren guten Willen bin ich angewiesen, rund um die Uhr.
Mit meinen Verhaltensweisen ecke ich immer wieder an. »Was ist das denn für eine neue Tablette?«, will ich von der Schwester einmal wissen. »Könnte ich den Beipackzettel lesen, bitte?« Sie rennt raus und knallt die Tür hinter sich zu. Ich will meine Situation und die dahinter liegenden Prozesse verstehen. Das kostet Zeit, stört Routineabläufe. Außerdem mische ich mich in fremde Kompetenzen ein.
Ich gehe meine Querschnittlähmung kognitiv an, wie es mir mein Stationsarzt rät. Mein Ziel ist klar: Spätestens am Entlassungstag möchte ich beginnen, in meiner eigenen Wohnung zu leben — allein.
Meiner Familie ist die Erleichterung darüber anzumerken, wie konstruktiv ich meine Situation angehe. Manchmal frage ich mich allerdings, ob ich mit meinem Ehrgeiz, meine Situation auch in medizinischer Hinsicht vollkommen zu verstehen, vielleicht in erster Linie auf Anerkennung von meinem Vater hoffe? Er klopft mir bei jeder kleinen Fertigkeit, die ich wiedererlerne, bewundernd auf die Schulter: »Toll, wie du das machst, mein Junge. In der Familie erzähle ich immer, mit welchem Kampfesgeist du die Situation angehst.«
Bei den Pflegern behalte ich den Ruf eines schwierigen Patienten, der alles besser zu wissen meint. Dabei sind gerade sie es, vor denen ich zunehmend Respekt bekomme. Noch vor wenigen Wochen hätte ich mich für Pflegeberufe oder für die Tätigkeit eines Physiotherapeuten überhaupt nicht interessiert, arrogant hätte ich den Blick auf vermeintlich »Wichtigeres« gerichtet. Aber nun beeindruckt mich die Hingabe, mit der jeder Einzelne von uns hier versorgt wird, zutiefst.
Besonders hat es mir eine Nachtschwester angetan, die immer mit sanftmütigen Augen ans Bett herantritt, um zu prüfen, ob alles in Ordnung ist. Sie schwebt von Bett zu Bett und verliert nie ein negatives Wort über einen Patienten. Im Gegenteil, sie scheint jedes Schicksal mitzufühlen, ohne sich dabei selbst zu verzehren. Was für ein harter Beruf, denke ich mir. Ständig geben zu müssen, psychisch und physisch, und das zu unregelmäßigen Arbeitszeiten und für einen Hungerlohn. Ich spüre aufrichtige Dankbarkeit.
Knirschen unter den Rädern, Gerüche in der Luft
Fast jeden Tag stehe ich im Dunkeln auf. Ohne meinen Glauben und das kurze Dankgebet, das ich nach dem Aufwachen spreche, käme ich morgens wahrscheinlich nie aus dem Bett,
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