Dem eigenen Leben auf der Spur
auf dem Boden liegt eine CD-Sammlung.
Flankiert wird der Raum durch eine Bar, auf die ich direkt zusteuere. Erst vor zwei Monaten, erfahre ich, haben Maarten und seine Freundin Linda das lange leer stehende Haus inklusive dem bis zum See reichenden Grundstück erworben. Sie planen, von hier aus Touren durch die Extremadura anzubieten.
Wir trinken Amstel-Bier. »Wie passend«, kommentiere ich, aber mein Gastgeber brummt etwas von bestem Preis-Leistungs-Verhältnis und findet meine Bemerkung wenig geistreich. Seine ruhige und fröhliche Art ist für mich eine Wohltat nach dem Lärm der letzten Stunden. Ohne Scheu fragt er mich, wie ich auf dem Weg zurechtkomme, und stellt dann nur noch technische Fragen über Ausrüstung und Ausstattung des Rollstuhls.
Ich fühle mich spontan wohl, möchte bleiben und mich einfach erholen. Meine innere Stimme rät mir auch, hierzubleiben, und Maarten bestärkt mich: »Heute Abend kommt Linda, dann sind wir zu dritt.«
Ich aber bin versessen auf noch mehr Kilometer, ich will noch weiterkommen. Maarten gibt mir seine Visitenkarte mit, falls ich einmal auf den nächsten hundert Kilometern Hilfe benötigen sollte. Wir sind uns sympathisch, lachen beide und versichern uns gegenseitig, dass dieser Fall bestimmt nicht eintreten wird. Wenig später schon schiebe ich mich wieder den steilen, felsigen Weg auf der anderen Seite der Straße hoch.
Mit meiner Entscheidung, noch einmal aufzubrechen, pokere ich hoch. Bis Einbruch der Dunkelheit bleiben mir noch etwas über vier Stunden. Ich rede mir ein, dass ich gut vorankommen werde. Im Grunde meines Herzens weiß ich es besser, weiche aber nicht von dem gefassten Entschluss ab. Mit Willenskraft erreicht man auf dem Jakobsweg, wie auch sonst im Leben, sehr viel, aber im Einklang mit sich, seiner Intuition folgend, gehen die Dinge leichter und glücklicher von der Hand.
Bereits auf den ersten 400 Metern komme ich nur zentimeterweise voran. Als ich zurückblicke, bemerke ich, dass mir die Bauarbeiter vom Haus aus nachsehen und sich sogar mit dem Finger an die Schläfe tippen, wie ich mit dem Oberkörper auf den Knien liegend mich den steilen Hang hinaufschiebe. Ich hätte mir viel Zeit erspart, wenn ich wenigstens für dieses kurze Stück um Hilfe gebeten hätte.
400 quälende Meter – in endlosen 20 Minuten
Trotz schmerzender Handgelenke stelle ich mit Genugtuung fest, dass ich seit Beginn der Wanderung deutlich kräftiger geworden bin. Noch vor einer Woche wäre ich hier nie und nimmer hinaufgekommen.
Von der Anhöhe aus kann man die Nationalstraße sich zwischen den Bergzügen und dem Stausee lautlos entlang schlängeln sehen. Grabesstille.
Als ob der Weg durch eine Kiesgrube führt, besteht der Untergrund im weiteren Verlauf nur aus faustgroßen Steinen. Jeder Meter erfordert vollste Konzentration. Nur ein Moment der Unachtsamkeit, und die verhakten Vorderräder stoppen das Gefährt abrupt. Meine Wahrnehmung ist voll auf den Weg direkt vor mir gerichtet, größere und kleinere Steine muss ich rechtzeitig erkennen und umfahren.
Ich fühle mich dem Weg ausgeliefert, er diktiert mir die Gedanken und Gefühle. Alles in mir sträubt sich, ich will mein Glücksgefühl zurück, sofort! Aber das lässt sich nicht herbeizitieren. »Glück kann nie ein Ziel, sondern immer nur ein Weg sein«, habe ich einmal gelesen. Der gute alte Aristoteles hilft mir hier nicht wirklich weiter.
Ein Radfahrer ruckelt die Piste grüßend an mir vorbei, auch er kann es sich nur für einen kurzen Augenblick erlauben, den Blick von dem unebenen Weg zu nehmen. Wenige Augenblicke später ist er schon wie vom Erdboden verschluckt.
Wann kommt endlich Cañaveral? Wut steigt in mir hoch. Was sich über Stunden der Anstrengung aufgestaut hat, entlädt sich mit einem Mal. Der Weg wird zur Projektionsfläche meines gesamten Frusts und des aufgestauten Schmerzes. Ich tobe, spucke auf ihn, verachte ihn. Ich meinte es besser zu wissen, im entscheidenden Moment habe ich meiner Intuition nicht vertraut, und jetzt verfluche ich die Konsequenzen. Es gibt niemanden, den ich dafür verantwortlich machen kann, nur mich selbst.
Die Sonne ist mittlerweile untergegangen. Mein Etappenziel liegt in 800 Metern Entfernung in einem rötlich eingefärbten Tal, in der Dämmerung gehen Kinder neben mir von ihrem Fußballplatz nach Hause. Was der romantische Ausklang eines mit extremen Emotionen gefüllten Tages sein könnte, offenbart sich jetzt als Albtraum. Von dieser Stelle aus
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