Dem eigenen Leben auf der Spur
in ein Tal hinunter. Ein plötzlicher Tempowechsel von Andante zu Presto. Von der tellerartigen Ebene aus war der tiefer gelegene Tajo-Stausee nicht zu erkennen gewesen. Wie im Reflex wünsche ich mir wieder eine Brücke herbei, manche Gedanken sind einfach nicht abzuschütteln.
Ich rase auf dem verwitterten Seitenstreifen nach unten, an mir donnern im Sekundentakt, aber vor allem auf Tuchfühlung Schwertransporter vorbei. Der Lärm umschließt mich wie eine Dunstglocke. Die Auspuffe scheinen mir sämtliche Abgasvarianten der modernen und der nicht so modernen Autoindustrie ins Gesicht zu pusten. Da ist es ein richtiges Erlebnis, zwischendurch, auf Augenhöhe mit den Radnaben, immer mal den deftigen Gummigeruch der Reifen in die Nase zu bekommen.
Der Luftsog der vorüberfahrenden Trucks reißt meinen Stetson-Hut mit, ich ziehe ihn fest über beide Augenbrauen. Manchmal verlasse ich den Standstreifen, liegen gebliebene Unfallteile, ein Kühlergrill oder Kunststoffreste versperren mir die Spur. Jedes Mal meine ich schon das schrille Quietschen von Bremsen in meinem Nacken zu spüren, von Bremsen, die tonnenschwere Gefährte keineswegs sofort zum Stoppen bringen.
Ein tellergroßes Schild grüßt unauffällig am Straßenrand den vorbeifahrenden Fahrzeuglenker. Pilger sind darauf gemalt, »Peregrinos« steht darunter. Wie hilfreich, beinahe hätte ich es vergessen.
Die Brücke über den Tajo-Stausee lädt zu einem Bungee-Jump in die Tiefe ein, tief unten glänzt die glatte, im Sonnenlicht stahlblaue Wasseroberfläche. Für eine Meditation oder nur ein kurzes Innehalten ist es hier leider viel zu gefährlich, die Brücke vibriert und der Fußgängerpfad ist so schmal, dass der linke Reifen genau auf dem Rand läuft. Adrenalin pur, das exakte Gegenteil von dem, was ich noch vor ein paar Minuten in der Landschaft erlebt habe.
Dennoch fühle ich mich beschützt und spüre gerade in solchen Momenten, dass ich nicht allein bin. Alles ist gut, ohne den geringsten Zweifel. Auf der Hochzeit meines Bruders habe ich ein Kapitel aus Prediger vorgelesen, das die Byrds in einem großartigen Song vertont haben: »Alles hat seine Zeit, Schweigen hat seine Zeit, Reden hat seine Zeit, Lieben hat seine Zeit, Hassen hat seine Zeit, Steine Sammeln hat seine Zeit, Steine Werfen hat seine Zeit.« Die letzte Passage ergänze ich im Geiste um ein Zitat aus dem Film »Forrest Gump«. Rainman und Jenny besuchen das verlassene Haus ihres misshandelnden Vaters, sie sammelt voller Verzweiflung Steine und schleudert sie gegen das verwitterte Holzhaus: »Manchmal gibt es gar nicht genug Steine, die man werfen kann.«
In dunkler Nacht
Linker Hand sehe ich ein allein stehendes, heruntergekommenes Haus. Es liegt abseits der Straße, nur ein Schotterweg führt zu ihm. Vor dem Holzhaus stehen zwei unabgeschlossene Mountainbikes, und ein 40-jähriger schlanker Mann mit vollem längerem Haar schlendert breit lachend auf mich zu. Er begrüßt mich auf Spanisch mit starkem holländischem Akzent. Augenzwinkernd auf die Besatzungszeit im Zweiten Weltkrieg anspielend, antworte ich, dass ich nicht gekommen sei, Fahrräder zu klauen. (Die Nazis hatten in Amsterdam alle Fahrräder konfisziert, um die mangelnde Kooperationsbereitschaft der Bevölkerung zu bestrafen. Seitdem kursieren entsprechende Witze unter den Holländern.)
Er antwortet jetzt lächelnd auf Deutsch: »Das ist aber ein sehr alter Witz.« Vor der Herberge hüpft ein kleiner Hund hektisch hin und her. Er hat noch nie einen Rollstuhl gesehen und bellt unaufhörlich.
Maarten, Anders und Rocco
Das Haus dürfte seine beste Zeit hinter sich haben. Die mit Lamellen besetzte Tür hängt schief in den Angeln, die Fassade wirkt matt und staubig, eine Schicht feinsten Pulvers scheint jedes Farbpartikel besetzt zu haben. Wie bei Schuhen nach einer langen staubigen Wanderung ist die Originalfarbe kaum zu erahnen.
Als ich eintrete, gewöhnen sich meine Augen nur langsam an das gedämpfte Licht. Verstreut stehen nicht zusammen passende Dinge herum. An einer Wand befindet sich ein großer Bierkühlschrank, in der Mitte des Raumes steht ein dunkler Tisch mit vielen Stühlen, überall liegt Werkzeug verstreut. Die milchigen Scheiben sind bestimmt schon seit Jahren ungeputzt, der Blick auf den Stausee ist hinter trüben Schlieren nur zu erahnen. Zur Straßenseite gibt es keine Fenster, so sind die Räume wenigstens lärmgeschützt. In der Multimedia-Ecke befindet sich ein Internet-Zugang,
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