Dem eigenen Leben auf der Spur
geht es auf einem alpinen Pfad steil bergab, doch später schlängelt sich der Weg gleich wieder hinauf. Nur wer hier übernachten will, geht zu den Häusern hinab, die Pilgerspur führt über die Anhöhe weiter in Richtung des nächsten Dorfes. Im Wanderführer hatte ich keine Warnung gelesen, sonst wäre ich — wer weiß! — vielleicht bei Maarten geblieben.
Panik. In wenigen Minuten ist es so dunkel, wie es nur in richtig einsamen Gegenden dunkel werden kann. Ich bin allein, niemand hört mein Rufen, niemand sieht, wie ich die Polizeiweste hin und her schwenke. Wer vermutet um diese Uhrzeit an dieser Stelle auch schon einen in gewisser Weise eingeschlossenen Menschen?
Ich rufe die Bar im Ort an, dort befindet sich die Herberge, zu der ich will, und bitte um Hilfe.
»Silla de ruedas, si, y que es la problema?«, lautet die Antwort und mir ist klar, dass man mich nicht verstanden hat. Habe ich plötzlich einen so starken Akzent?
Das Display meines Handys teilt mir zu allem Überfluss auch noch freundlicherweise mit: Akku fast leer. Sollte ich doch versuchen, in dieses Dorf hier hinunterzugelangen? Aber was passiert, wenn ich stürze? Vor morgen früh findet mich hier bestimmt niemand.
Maarten! Das ist die Lösung. Als ich es bei ihm versuche, schaltet sich nur der Anrufbeantworter ein. Jeden Moment kann sich mein Handy verabschieden, ich könnte vor Ohnmacht und Wut aus dem Rollstuhl fahren. Ein letzter Anruf in der Bar, ich wiederhole nur zwei Worte: »Rollstuhl« und »Hilfe«, aber es ist laut im Hintergrund und die Antwort ist nicht zu verstehen. Frustriert lege ich auf. Mittlerweile ist es vollständig dunkel.
Sollte ich, hier schlafen, auf dem sandigen Boden, über mir die Milchstraße?
Das Handy klingelt. Maarten ist dran, fröhlich und unbeschwert. Ich empfinde seine Art angesichts meiner Situation schwer zu ertragen. Knapp beschreibe ich ihm die Stelle, an der ich mich befinde, dann ist das Telefon endgültig tot. Ob er mich anhand dieser Kurzbeschreibung finden kann?
Ich sehe keinen Sinn mehr darin, mich aufzulehnen, lasse eine innere Ruhe zu und sage mir, dass alles gut ist. Den Ausklang des Tages hatte ich mir zwar ganz anders vorgestellt, aber der Camino fügt sich nicht meinen Erwartungen. Offensichtlich hat er seine eigene Agenda. Und ich will wachsen, Dinge lernen, sage ich mir das nicht immer? Gut, fangen wir gleich jetzt damit an!
Ich bete. Diese Situation ist kein Zufall. Ich wusste es von Anfang an besser, habe mich jedoch für das Voranpreschen und gegen das Ausruhen entschieden. Auch diese Situation wandelt sich zu ihrem Besten, davon bin ich überzeugt. Ich bin bei dir und verlasse dich nicht, lautet das Versprechen Gottes, das ich schon unzählige Male in Anspruch nehmen durfte.
Diesen fast kindlichen Glauben festigte ich in Amerika. Aber schon als kleiner Knirps hatte ich eine enge Beziehung zum Schöpfer, ein inniger Bezug zu dem evangelischen Gott fehlte mir da freilich. Das deutsche Wettern von der Kanzel herab, das so viel Reflexion und so wenig Handlungsanweisungen beinhaltet, hielt dem Stress des Alltags auch in der folgenden Zeit meist nicht stand. Das Königreich Gottes ist nahe, hörte ich und fragte mich stets, wie nahe es denn sei. Um die Ecke, oder doch vielleicht noch ein Lichtjahr entfernt? In Amerika erfuhr ich, dass sich dieses Königreich hier und jetzt, in diesem Moment, offenbart. Es ist immer nur ein Gebet weit weg, und niemals weiter. Gott als Urkraft kann mich nicht finden, er ist schon da, ich muss es nur zulassen. Kein Jesus mehr für später einmal, sondern einer, der mich in genau diesem Moment an die Hand nimmt: Es ist gut, wie es ist, denn ich bin da. Das spüre ich kraftvoll hier auf dem Jakobsweg.
Die Intuition ist ein Geschenk, das ich annehmen kann oder nicht. Befolge ich den leisen Wink, werde ich mich im Anschluss gut fühlen. Entscheide ich mich anders, ist dies nur die zweitbeste Lösung, und zwar immer, vor allem langfristig. Gott will niemals, dass ich leide, deshalb kann ich auch ein Leben im Rollstuhl als Gnade annehmen. Schließlich hätte es in Berlin auch anders ausgehen können.
Stimmen. Maarten und Linda haben mich gefunden — ich bin erhört worden. Ich strahle sie an. Erst vor einer Woche waren sie hier entlang gewandert und wussten daher genau, von welcher Stelle ich sprach und wo ich mich befand.
Ihr Transporter steht in der Talsenke, mit brennenden Scheinwerfern, und lässt die zerklüftete Landschaft durch das milchige
Weitere Kostenlose Bücher