Dem eigenen Leben auf der Spur
Licht wie ein Gemälde von Caspar David Friedrich erscheinen. Linda leuchtet uns mit der Taschenlampe den Weg, während Maarten den Rollstuhl keuchend durch den Hindernisparcours steuert. Der Pfad ist an einigen Stellen so schmal, dass ich auf einem einzigen Rad jonglieren muss, die anderen drei kratzen in der Luft schwebend am Fels entlang. Es riecht wie früher, wenn wir als Kinder Steine auf Bahngleise geschleudert haben, bis es funkte.
Das Knirschen ist so laut, dass uns Linda erschreckt ins Gesicht leuchtet. Obwohl jeder Schritt unsere volle Konzentration verlangt, blödeln wir, als befänden wir uns unter den Scheinwerfern eines Regisseurs. Zumindest wir beide können uns jetzt gut erkennen. Die Frisur sitzt.
Zum zweiten Mal trete ich an diesem Tag durch die scheppernde Saloontür. Der rebellische Hund vom Nachmittag ist zutraulich geworden. Rocco, so heißt er, gehörte sozusagen zum Inventar und wurde zusammen mit Haus und Grundstück erworben.
Zu dem Raum, den ich bekomme, führt der Weg durch das Wohnzimmer. Maarten informiert mich, dass dort sein eigener Hund, Anders, liege. »Nicht erschrecken«, sagt er lachend und öffnet die Tür. Schaf wäre die angemessenere Bezeichnung für das Tier. Auf Augenhöhe werde ich von einem zotteligen Leonberger begrüßt, der versucht, mich abzuschlecken. Als er seine Pfoten auf meinen Schoß legt, wirft mich sein Gewicht fast um. Zum wievielten Mal eigentlich schon an diesem Tag?
Meine Katze
Heute Nacht also doch ein Zimmer mit frisch bezogenem Bett, dafür ohne Sternenhimmel. Wunderbar! Im Bad hängen weiche Handtücher, am Waschbecken liegen kleine Seifen und Shampoos von Hotels wie Kempinski und Hyatt Regency. Linda bringt sie von ihren Flugreisen mit. Meine gesamte Reiseausrüstung kann also im Rucksack bleiben. Das ist auch besser so, der lange Riss entlang des Reißverschlusses mahnt mich eindringlich, das Ganze entweder zu reparieren oder nicht mehr anzufassen.
Mit Wein stoßen wir auf meine glückliche Rettung an und improvisieren ein Essen zu dritt. Die beiden hatten an diesem Abend keinen Besuch mehr erwartet, und auf Gästebetrieb sind sie noch gar nicht eingestellt. Eigentlich auch nicht auf Pilger. Als sie das Haus kauften, sagte ihnen die Vía de la Plata überhaupt nichts. In Holland betreiben sie eine große Internet-Reiseagentur für Irland und wollen nun das Gleiche für Spanien gründen: www.travelextremadura.com .
Völlig unvermittelt beginnt Maarten von seiner früheren Frau zu erzählen, die aufgrund von Muskelschwund die letzten Jahre ihres Lebens im Rollstuhl verbrachte. Als sie starb, war er selbst wie gelähmt und hätte die Wohnung nie verlassen, wenn nicht sein »Schaf« fortwährend gejault hätte, um ausgeführt zu werden. An den Tagen, an denen es ihm besser ging, war Anders dann wie ausgewechselt und ließ ihn in Ruhe.
Unser Kennenlernen und die erfolgreiche Rettungsaktion berauschen uns an diesem Abend. Linda spricht über ihren Beruf als Flugbegleiterin mit angenehmer Selbstironie. Mit »stumpf ist Trumpf« beschreibt sie ihre Kolleginnen und erzählt einen typischen Airlinewitz: Woran erkennst du eine Flugbegleiterin auf einer Party? Sie isst alle Häppchen nur halb und wischt sich an den Gardinen die Hände ab. Und woran erkennst du einen Flugkapitän? Gar nicht, er wird’s dir sagen.
Ich fühle mich ausgeglichen, endlich ruhe ich wieder in mir, wir unterhalten uns bestens und ich könnte noch lange so weitermachen. Meine Vernunft rät mir jedoch, ins Bett zu gehen. Es ist fünf Uhr morgens. So glücklich wie hier habe ich mich auf der Vía de la Plata erst selten gefühlt.
Als ich aufwache, ist es fast Mittag. Träume ich? Bin ich wirklich zweimal hier vorbeigekommen, verbunden mit einer Rettungsaktion, die ich so schnell nicht vergessen werde?
Maarten klopft und fragt, ob ich irgendetwas aus dem Dorf mitgebracht haben möchte, in das er jetzt kurz fährt. Als ich nur den Kopf schüttle, erklärt er, dass ihre Katze Junge bekommen habe und sie eins davon Felix nennen werden. »So bleibst du irgendwie bei uns, Pilger!«
Das Haus duftet nach frischgebackenem Brot. So einfach kann man eine häusliche Atmosphäre schaffen, denke ich. Meine Mutter backte immer Brot, wenn bei einem bevorstehenden Jobwechsel meines Vaters das Haus wieder einmal verkauft werden sollte und potentielle Käufer an die Tür klopften.
Lindas Frage, ob ich eine weitere Nacht bleiben will, freut mich. Aber ich will lieber weiter.
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