Dem eigenen Leben auf der Spur
ein paar Minuten Unterstützung verhindert, dass ich eine halbe Stunde lang stupide wie ein Wüstenfuchs vor mich hin kämpfen muss. Oder bedeutet das, ich muss direkter um Hilfe bitten?
Kurz vor der Stadtgrenze von Zamora habe ich sie trotzdem eingeholt. Allerdings nicht, weil ich so schnell vorangekommen bin, sondern weil sie eine weitere Pause eingelegt haben. Mit geröteten Wangen begrüßen sie mich. Camino Love.
Dann stoppt das nächste Loch im Reifen meine Weiterfahrt. »Da musst du wohl flicken. Wir kümmern uns um die Unterkunft und halten dir ein Bett frei. Wir melden uns per SMS und sagen dir, wo wir sind«, sagt Thomas.
Vor Wut hätte ich aufspringen und den Rollstuhl in lauter Kleinteile hacken können. Den ganzen Schrott hätte ich dann in den Fluss, der Zamora so außerordentlich romantisch umspült, geworfen. »Heilung durch Wut« hätte ich jedem mit blitzenden Augen zugezischt, der mich gefragt hätte, warum ich plötzlich wieder laufen kann.
Im Moment sehe ich vor Wut einfach nur rot. Ich empöre mich über das Ausgeliefertsein, die Unberechenbarkeit des nächsten Schrittes und meine permanente Hilflosigkeit. Nach einem langen und teilweise anstrengenden Tag habe ich absolut keine Lust, unmittelbar vor dem Ziel mitten in der stechenden Sonne einen Reifen zu flicken. Ich wünsche mir Erholung, aber ich bekomme einen Schlag in die Fresse.
Ich hadere mit Gott. Nichts kann ich auf diesem grauenhaften Weg im Voraus planen. Wenn ich einmal glaube, schon nichts mehr tragen zu können, bekomme ich prompt eine zusätzliche Portion oben drauf gepackt. Ich sitze mit schmerzenden Händen auf einer Bank, beäugt von Spaziergängern, die vorbeischlendern, und beginne, missmutig den Reifen auszubauen. Martine und Thomas sitzen bestimmt schon bei einem kühlen Bier.
Woher kommt diese rasende Wut? Hat es damit zu tun, dass eine Art lähmender Angst, die mich im geregelten Frankfurter Umfeld umgibt und permanent für Druckausgleich sorgt, hier von mir abgefallen ist?
Je länger ich darüber sinniere, umso befreiender kommt es mir vor, nach Herzenslust toben zu können, wenn mir danach ist, ohne den Job oder die Beziehung aufs Spiel zu setzen. Keiner kennt mich hier, und kaum jemand wird mich hier in der Weite der spanischen Landschaft hören. Ich kann also nach Herzenslust schäumen und wirbeln, die Lektion des Vormittags ist verdrängt. Hier wird kein Gefühl unterdrückt, es muss heraus. Die Erkenntnis ist banal: Es verändert sich nichts durch ein reinigendes Gewitter, aber die elektrostatische Spannung hat sich entladen und der Regenschauer lässt Altes in frischem Glanz erstrahlen.
Wie oft hat mir Wut Kraft gegeben, einen angefangenen Weg zu beenden und zusätzliche Kräfte zu entwickeln, die Unmögliches haben möglich werden lassen. Habe ich diese Wut mit auf die Welt gebracht, mit der Chance, sie hier zu heilen?
Vielleicht ist mir auch nur die Sonne zu Kopf gestiegen. Abhängig davon, auf welchem inneren Abschnitt der Reise man sich befindet, ist die Offenheit für ein Gegenüber bei den Pilgern mehr oder wenig stark. Besonders am Anfang sind die meisten am Nächsten interessiert. Was hat ihn auf den Weg gebracht, was erhofft er oder sie sich davon, haben wir gemeinsame Themen? Man geht aufeinander zu, energiegeladen und voller Neugierde auf das Kommende. Alles ist aufregend und spannend, selbst die erste Blase am Fuß und der Umgang damit.
Dann kommt irgendwann zur Mitte der Zeit eine Art Lagerkoller, man schottet sich ab und will ganz seinen eigenen Weg gehen. Müdigkeitserscheinungen überlagern die Stimmung, und die eigene innere Leere schreit danach, mit etwas Tieferem gefüllt zu werden. Erst wenn dieser Brand gelöscht ist, ein Brand, den kein Mensch zu löschen vermag, ist der Pilger wieder offen für das Gegenüber, in dem er sich selbst erkennt.
Das Pilgerpärchen Martine und Thomas treffe ich genau in dieser Mitte, hinzu kommt, dass sie beide ihre Einheit zelebrieren wollen, ungestört.
Anfänglich fanden es Martine und Thomas vielleicht originell, mit einem Pilgerexoten unterwegs zu sein, ihn zu beobachten und darüber nachzudenken, wie es für sie wäre, den Weg rollend meistern zu müssen. Ich weiß nicht, ob ich so stark wäre, habe ich oft zu hören bekommen. Was aber, wenn der Exot Hilfe braucht?
Am letzten Faden
Ich brauche Hilfe: Mein Rucksack hängt am letzten Faden und benötigt dringend eine Reparatur. Nach einigem Suchen finden wir einen Schuster, der
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