Dem eigenen Leben auf der Spur
weiter stehen einige Schatten spendende Bäume, eine ideale Oase für eine Rast. Als ich dort ankomme, liegen bereits Martine und Thomas im Gras unter den Bäumen.
Camino Stillleben
Hier ist es deutlich angenehmer als unter der Sonne, gemeinsam genießen wir die übrig gebliebene Hälfte der Frucht. Aus der geplanten kurzen Pause wird so eine deutlich längere. Aber wie schön ist es, nicht allein zu sein! Sie erzählen mir von ihrem kurzen Halt in Villanueva de Campeán, einem dermaßen kleinen Weiler, dass ich ihn in nur zwei Minuten durchquert hatte. In der Bar hatte die Frau hinter dem Tresen den beiden von einem Pilger im Rollstuhl erzählt, von dem sie gehört habe. Thomas verspricht ihr, mir Grüße auszurichten und Gottes Segen zu wünschen.
Ein wenig beneide ich sie um ihre Camino-Liebe. Durch die erhöhte Sensibilität auf dem Weg setzt sie vermutlich viel tiefer an, als das im Alltag der Fall wäre. Allein die Suche nach dem Warum der Pilgerschaft lässt bei ehrlicher Antwort einen tiefen Blick in die Seele des Anderen zu.
Aus dieser Intimität wieder an die Oberfläche zurückkehren zu müssen, fällt schwer. Wie anders geht es etwa im Berufsalltag zu. Dort zählt nur Professionalität, die eine gewisse Neutralität und nicht selten Gefühlskälte provoziert. Jeder igelt sich ein. Wie oft aber sehe ich in den Augen der Menschen einen Funken flimmern, der nie völlig verlöscht. Etwas Wind und ein wenig Nahrung können die Flammen auflodern lassen. Was für eine Kraft wird da sichtbar! Viele Pilger entdecken diese dauerhafte Quelle tief in ihrem Innersten auf der Reise.
Martine und Thomas haben ihren Austausch untereinander, lernen sich kennen und lieben. Ich war lange Tage und Nächte allein in der spanischen Weite, aber nie einsam. Ich habe dabei mich und meine unsichtbaren Engel besser kennen und lieben gelernt.
Besonders an diesem Vormittag spüre ich, nicht allein zu gehen. Ein unsichtbarer Begleiter schreitet neben mir her, hält an, wenn ich innehalte, und geht schneller, wenn ich beschleunige. Ich habe die ganze Zeit ein warmes, wohliges Gefühl. Meine Gedanken sind sanft und leise, voller Frieden und Zuversicht.
An einer sandigen Stelle versacke ich tief, der Rollstuhl steckt fest und bei jedem Antriebsversuch drücke ich mich fast aus dem Rollstuhl. Im Zickzackkurs versuche ich Stellen zu finden, wo der Untergrund hart ist. Ich fluche lauthals und fühle mich augenblicklich freier.
Sicherlich kannst du schimpfen, sagt der Begleiter zu mir, aber das ist kein Tribut an Gott. Im Grunde deines Herzens ziehst du mit Fluchen negative Kräfte an, die wie Schleier wirken. Auch wenn Dinge nicht so verlaufen, wie du möchtest, und dich die Umstände quälen, fokussiere dich auf ihn, auf seine Kraft; mache sie dir zu eigen. Dann wirst du stets voller Zuversicht den nächsten Schritt gehen, gleichgültig, wie anstrengend es dir vordergründig erscheinen mag.
Vor Glück über diese liebevollen Worte laufen mir Tränen über die Wangen. Mit meinen schmutzigen Händen wische ich sie nicht ab, sie hinterlassen feine Linien in meinem staubigen Gesicht, bevor sie auf meine Hose tropfen.
Die nächste sandige Stelle ist schlimmer als die vorherige. Kurz innehaltend beherzige ich die erst vor wenigen Minuten vernommene Eingebung. Objektiv schiebe ich mich schwerfälliger voran, fühle mich aber dennoch, als ob ich getragen würde.
Ob ich diese Erfahrung einem Menschen, der noch nie gepilgert ist, vermitteln kann, ohne dass er mich für einen religiösen Spinner hält?
Martine, Thomas und ich fühlen uns jung, energiegeladen und voller Leben. Schweiß, der Boden, auf dem wir gehen, und ein Ziel, das noch Tage entfernt liegt, verbinden uns. Wieder wird der jetzt ansteigende Weg sandig, wieder verlangsamt sich mein Tempo. Sie sind zu tief in ein Gespräch vertieft, als dass sie mich weiter beachten, kurz darauf sind sie schon außer Rufweite. Als ich endlich die Anhöhe erreiche, sind sie nur noch kleine Punkte in der Ebene vor mir.
»Ich dachte, wenn du so weit gekommen bist, benötigst du keine Hilfe«, erklärt mir Thomas später achselzuckend.
Ist es das, was ich mit meinem offensiven Auftreten suggeriere: dass ich autark bin und keine Unterstützung brauche? Ich empfinde hier eine feine Grenze: Dinge wirklich selber bewältigen zu können, oder aber das Ziel nur mit einem unverhältnismäßig hohen Kraftaufwand zu erreichen. Kaum jemand spürt den Unterschied. Hier zum Beispiel hätten
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