Dem eigenen Leben auf der Spur
loslassen. Dass das anstand, war schon vor Beginn der Reise klar und tat mir seitdem weh, während dem Wandern mit jedem Tag etwas weniger. Heute endlich entspricht Gott meiner Bitte, und ein kräftiger Windhauch nimmt den Rest Trauer über den Verlust mit, der mich noch lähmte.
Schmerzlich musste ich erkennen, dass sich unsere Prioritäten und die Lebensplanung gegenläufig entwickelt hatten. Seine Freundin, die er nach fünf Jahren heiratete, avancierte zu seinem besten Freund. Gemeinsam wollten sie ihre Selbständigkeit aufbauen, eine Familie gründen und im Grünen wohnen. Ich beförderte meine Freundin nie dazu, diesen Platz hatte stets er in meinem Herzen eingenommen. Darum titulierte meine Freundin ihn gern als meine »zweite Frau«. Immerhin nicht die erste!
Leider konnten wir uns über spirituelle Themen nie verständigen, auch von meinen Erfahrungen auf dem Jakobsweg wollte er nichts wissen, und natürlich wollte er mich nie begleiten.
Am Grab meines Vaters beerdigte ich dann nicht nur einen liebevollen und gütigen Mann, sondern gleichzeitig auch ihn, meinen besten Freund. Er war mir bereits das letzte Jahr während dieser schweren Phase ferngeblieben und stand am Tag der Beerdigung auch nicht neben mir. Den letzten Rest Schmerz darüber weht der Wind heute fort, und er macht mich frei.
Ich wende mich nach links auf den so genannten mozarabischen Weg, der mich von hier bis nach Santiago führen soll. Einige Kilometer weiter nördlich würde ich sonst in Astorga auf den Camino Francés treffen. Da war ich schon, außerdem würde ich nach der Stille der letzten Wochen wahrscheinlich einen kleinen Schock bekommen, denn hier sollen inzwischen viele Menschen unterwegs sein.
Die Vía de la Plata wird ab hier auch Mozarabischer Jakobsweg genannt. Die Mozaraber waren Christen, die in den vom Islam beherrschten südlichen Gebieten der Iberischen Halbinsel lebten und im 11. Jahrhundert Pilgerfahrten nach Compostela an das Grab des Apostels Santiago unternahmen. Ursprünglich führte der Mozarabische Jakobsweg von Granada über Córdoba nach Merida, wo er sich mit der Vía de la Plata für die nächsten Hunderte von Kilometern vereinigte. Ich schwenke nun auf den letzten Abschnitt dieses Wegs ein, hinter Granja de Moreruela. Ab jetzt befindet sich mein Schatten mittags nicht mehr vor mir, sondern läuft rechts neben mir her.
Es gibt nichts, was auf dieser Strecke die Leere füllen könnte. Und kein Gedanke, keine Erinnerung, woran mein Geist sich klammern könnte, um etwas Ablenkung zu haben. Ich schalte mein Handy ein, wünsche mir nichts sehnlicher als eine Nachricht, egal von wem. Es bleibt stumm. Irgendwann schalte ich es frustriert wieder aus.
Ein schweres 3-Gänge-Mittagsmenü, begleitet von einem Liter Rosé, gibt mir etwas Lebensfreude zurück. Schon der Teller Eintopf hätte mir als Hauptgericht zu dem Wein gereicht. Stumpf verdrücke ich trotzdem das große Schnitzel mit Pommes Frites und als Nachtisch sogar noch einen Pudding, um irgendetwas zu empfinden. So ähnlich müssen sich Bulimiepatienten fühlen, die sich vollstopfen, um sich zu spüren. Aber der Selbsthass ist mir fremd, ein zentraler Unterschied.
Unter den Menschen in der Bar fühle ich mich wohl. Hier spielt man Karten, die Leute stimmen sich lautstark auf ihr Wochenende ein. Für mich spielen die Unterschiede zwischen den Tagen mittlerweile keine Rolle mehr, jeder hat seine eigene Geschichte, unabhängig vom Kalender, es ist fast wie früher zu Studentenzeiten.
Da ich die Toilette nicht benutzen kann, um mir die Hände zu waschen, bringt mir der Kellner eine Schüssel mit Wasser, Seife und Handtücher. Es sind die kleinen Gesten, die mich immer wieder aus dem Sumpf ziehen.
Das Menü kostet sechs Euro, ich bezahle und verlasse das Restaurant.
Der Wein und die pralle Mittagshitze lassen mich unendlich müde werden. Wie gern würde ich mich unter einen Baum am Wegrand legen und schlafen. Aus Angst, dass jemand den leeren Rollstuhl mit mir daneben im Gras liegen sieht und das Ganze als Unfall missversteht und Alarm schlägt, schleppe ich mich jedoch Meter um Meter weiter.
Der Glockenturm von Tábara ist zwar schon in Sicht, aber bis dahin ist es noch eine Ewigkeit. Ganz dringend wünsche ich mich woanders hin. Nur wohin? Ich bin dankbar für die Disziplin, die ich von meinem Rudertrainer gelernt habe. So schaffe ich es, auch ein physisches und mentales Tief zu meistern. Diese Disziplin war es auch, die mir half, den Verlust meines
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