Dem eigenen Leben auf der Spur
reden.
»Deine Oma ist nicht zu deiner Geburt gekommen, da sie erfahren hatte, dass deine Mutter deinen Vater betrogen hat. Du weißt, wie sehr Oma deinen Vater geliebt hat! Mir gegenüber hat sie sich ein einziges Mal versprochen, aber ich durfte nichts sagen.«
Was wusste mein Vater?
Am nächsten Morgen, es war ein Sonntag, stürmte ich in die Klinik, um endlich die Wahrheit zu erfahren. Konnte es wirklich sein, dass er nichts wusste?
Wieder bestritt er alles. »Und selbst wenn es so wäre und du erfahren würdest, dass dein leiblicher Vater ein wohlhabender Mann ist, würde das etwas ändern? Meinst du, er wäre dir ein besserer Vater gewesen?« Für ihn war damit das Gespräch beendet.
Ich konnte es jedoch nicht dabei belassen. Bei einem staatlich geprüften Labor in Berlin bestellte ich ein Set für einen Vaterschaftstest, mit ihm in der Tasche fuhr ich wenige Tage später noch einmal zu meinem Vater. Ich erklärte ihm, dass ich den Test jetzt machen würde, ich müsse einfach wissen, woran ich sei.
»Wollen wir uns die 300 Euro nicht sparen, und lieber erzählst du mir die ganze Geschichte?«
Er schüttelte nur den Kopf. Ich hatte den Eindruck, für ihn war das Ganze ein Spiel mit der Zeit, denn es würde sieben Tage dauern, bis das Ergebnis frühestens feststehen würde.
Ich nahm also die vorbereiteten Wattestäbchen und rieb sie jeweils an der Wangeninnenseite meines Vaters und an meiner. Dann verschloss und versiegelte ich die Röhrchen vorschriftsmäßig.
Selten habe ich meinen Vater mich so kummervoll anblicken sehen wie in diesem Moment. Als ob er sagte: Junge, lass doch gut sein. Mach dir dein Leben nicht immer so schwer!
Nach sieben Tagen rief ich in dem Berliner Labor an, und man erklärte mir, dass sie immer dann sicherheitshalber einen Kontrolltest durchführen würden, wenn ein Ergebnis negativ sei — was im Klartext heißen sollte: wenn es sich bei einer Probe nicht um die Probe des leiblichen Vaters handeln würde. Das sei in meinem Fall der Grund für die Verzögerung.
Jutta wusste von meinem Vorhaben, nach dem Ergebnis hat sie mich nie gefragt. Einen Tag, nachdem mein Vater gestorben war, kam der Brief bei mir an. Das Ergebnis war negativ.
In kritischen Situationen hatte er oft im Spaß zu mir gesagt: Saved by the bell! So hatte er es auch dieses Mal gewollt.
Der Mann meiner Tante, ein erfahrener Rechtsanwalt, riet mir, die Sache geheim zu halten. Ich könnte ja nicht einmal sicher sein, ob ich überhaupt Erbe sei. »Verbrenne das Ergebnis«, legte mir meine Tante nahe, ein Rat, den ich nicht befolgte.
Als ob mir der Boden unter den Füssen entzogen war, fühlte ich nichts, ich war unfähig zu arbeiten oder zu verarbeiten, was geschehen war, und wusste auch nicht, wen ich um Hilfe bitten konnte. Völlige Leere umgab mich. Ich betete nonstop.
Im Internet suchte ich nach Selbsthilfegruppen, fragte bei dem Labor nach, ob sie mit Psychologen Zusammenarbeiten würden. Diese waren auf Hilfe für Väter spezialisiert, nicht aber auf Hilfestellungen für Kinder. Niemandem vertraute ich mich an, erst Wochen später konnte ich mich gegenüber engsten Freunden und Familienangehörigen öffnen. Darüber zu sprechen half ein bisschen, immerhin.
Plötzlich glaubte ich zu verstehen, warum ich nie den uneingeschränkten Rückhalt meines Vaters gespürt hatte, sondern immer sein Bemühen, ein guter Vater sein zu wollen. Ohne Zweifel war er das, nur fehlte in meiner Wahrnehmung immer das letzte Quäntchen.
Meine Tante und ich schienen uns in dieser schweren Zeit gegenseitig zu stützen. Ich besuchte sie in München, wir gingen gemeinsam ins Theater und anschließend essen. Wie verblüffend ähnlich sie meiner Mutter sah. Plötzlich war sie die einzige noch verbliebene leibliche Verwandte, nachdem die weit verzweigte Familie meines Vaters so unvermittelt ausgefallen war.
Unser Glück währte nur wenige Monate. Als sie hörte, dass ich einen Anwalt eingeschaltet hatte, um meine Interessen zu vertreten, fiel sie mir in den Rücken. Ihrem Rat, mich still zu verhalten, konnte und wollte ich nicht folgen.
4 AUS EIGENER KRAFT ANS ZIEL
N icht schon wieder eine Herberge für mich allein! Das große einstöckige Haus ist verschlossen, was nichts anderes heißt, als dass ich der Erste und bislang Einzige bin, der hier übernachten möchte. Also warte ich eine Stunde lang inbrünstig darauf, dass sich doch noch ein weiterer Pilger hierher verirrt.
Ich lehne an der Wand, warte und hoffe.
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