Dem Himmel entgegen
so, als würden sie in einem Nest leben. Sie sehen aus der Vogelperspektive, was sie in der Natur erwartet, wenn Sie so wollen. Dann, wenn sie sich an die Box gewöhnt haben, werden die Stangen entfernt, und die Tiere sind frei, fliegen zu lernen oder den Dreh beim Jagen herauszufinden. Es ist ein unglaublich schöner Moment, wenn man zusehen darf, wie ein Jungtier zum ersten Mal fliegt.”
“Ich hoffe, das kann ich auch sehen.”
Er drehte sich um, strahlte sie an, und sie fühlte sich, als sei sie für dieses besondere Geschenk auserwählt worden. Es war kein Wunder, dass so viele Menschen Harris so mochten.
“Ich werde dafür sorgen, dass Sie es miterleben können”, sagte er leise.
Sie machte ein paar Schritte zurück und blickte in die nächste Voliere. “All die Liebeslieder und Balzgesänge, die ich von meinem Fenster aus gehört habe, scheinen ihr Ziel nicht verfehlt zu haben”, sagte sie und schaute durch die Gitterstäbe. “Die Waisenkinder werden scharenweise in der Klinik abgegeben. Die medizinische Station gleicht schon fast einem Kindergarten.”
“So ist das immer im Frühling. Das hält uns auf Trab.”
Er sprach von
uns
, und sie fand es schön, dass dieses
uns
auch sie einschloss.
Ella schlenderte von Käfig zu Käfig und warf einen Blick auf ihre Patienten. Es erinnerte sie an die Nächte, in denen sie noch mal nach jedem ihrer kleinen Patienten gesehen hatte, wenn im Krankenhaus eine Schicht begann oder endete. Jetzt sind es eben
Vögel
, dachte sie mit Erstaunen und konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen, wenn sie darüber nachsann, wohin das Schicksal sie auf der Straße ihres Lebens gebracht hatte. Dies hier war, das wusste sie, ein Schritt für sie, um wieder gesund zu werden, wieder Freude am Leben zu entwickeln, wieder frei sein zu können.
Zuerst ging sie zu Voliere 1, um nach den beiden kleinen Geier-Waisen zu gucken. Irgendetwas an ihnen ließ sie jedes Mal lächeln, wenn sie sie sah. Sie wuchsen von Minute zu Minute und besaßen ausgeprägte Persönlichkeiten. Obwohl sie unzertrennlich waren, hatten sie in letzter Zeit begonnen, sich wie Kleinkinder zu zanken. Wenn einer Futter hatte, wollte der andere es ihm abspenstig machen. In den vergangenen Wochen war ihr grauer, zarter Flaum den schlanken schwarzen Flug- und Umrissfedern gewichen, und die beiden hatten fast ihre endgültige Größe erreicht. Doch sie waren noch immer Kinder. Die beiden erwachsenen Geier drängten sich in die hinterste Ecke, auf die höchste Sitzstange im Gehege, gerade so, als wollten sie sich von den beiden Halbstarken so weit wie möglich fern halten. Die Waisen bewohnten einen Pferch auf dem Boden der Voliere. Als Ella hineinblickte, entdeckte sie die beiden – sie schliefen friedlich und hatten ihre Köpfe auf die Flanke des jeweils anderen gelegt.
Als die Sonne unterging, begaben sich die tagaktiven Vögel zur Ruhe, während die nachtaktiven Tiere langsam munter wurden. Tumult und Gekreisch drang aus Voliere 2 an ihr Ohr. Sie sah hinein. Eine Gruppe von Eulen hatte sich auf die hinterste Sitzstange in der Voliere zurückgezogen, möglichst weit weg von den Menschen, drehte die Köpfe und starrte sie mit glühenden gelben Augen an.
Ella blickte über die Schulter und sagte: “Wissen Sie eigentlich, dass wir inzwischen acht Virginiauhu-Waisen hier haben? Sehen Sie sie nur an. Sie sind hellwach und fertig für die Party.”
“Und es werden noch mehr kommen”, sagte er und kam zu ihr herüber. “Die Leute bringen sie von überall her. Sie finden sie auf dem Boden unter dem Nest, wo das Jungtier wahrscheinlich rausgefallen ist, und bringen sie zum Tierarzt, um den Tieren zu helfen. Das Problem ist, dass die Finder nie ihren Namen und ihre Adresse hinterlassen – deshalb wissen wir nicht, woher die Küken stammen, und es gibt auch niemanden, den wir fragen könnten. Das ist frustrierend, denn in neun von zehn Fällen ist der Nestling in guter Verfassung. Junge Eulen zum Beispiel hüpfen um das Nest herum, um langsam ihre Flügel auszutesten. Dass da ab und zu mal eine Eule herunterfällt, ist normal. Ich würde es lieber sehen, wenn die Tiere in ihre Nester zurückgebracht würden, wo sie hingehören.”
“Was ist mit diesem Vogel?” fragte Ella und ging zu Voliere 4. Dort befand sich neben zwei erwachsenen Schleiereulen ein Findelkind, das Anfang März gebracht worden war und ein bisschen wie eine Pusteblume wirkte – flauschig, mit herzförmigem Gesicht und riesigen Augen.
“Bei
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