Dem Himmel entgegen
empfand tiefes Mitleid für den Jungen, der so viel durchgemacht hatte.
“Manchmal ist Liebe nicht genug. Die Bedürfnisse des Kindes sind wichtiger als die der Mutter.”
“Ich habe es überstanden”, sagte er und lehnte ihr Mitleid ab. “
Sie
war diejenige, die Hilfe brauchte. Sie war die Diabetikerin.”
“Dann hat sie sich langsam selbst umgebracht. Sie hätte es wissen müssen.”
“Ich denke, es war ihr einfach egal.”
“Hat sie sich um Sie gesorgt?”
“Natürlich hat sie das”, rechtfertigte er seine Mutter. “Sie suchen ja förmlich nur nach dem Schlechten in ihr. Dabei war sie eine nette, liebenswerte Frau. Und klug. Es ist nicht ihre Schuld, dass sie mit zwei schrecklichen Krankheiten gestraft war, die ihr Leben bestimmten.”
“Aber, Harris, sie hat den Krankheiten doch erlaubt, ihr Leben zu kontrollieren. Sie hätte versuchen können, die Alkoholsucht zu besiegen und ihr Leben wieder in den Griff zu bekommen. Um ihrem Kind eine bessere Mutter zu sein.”
“Sie wissen gar nichts, Ella!” schoss er zurück. “Sie waren nicht dabei, als er fortging. Sie haben ihr Gesicht nicht gesehen. Es hat sie umgebracht. Er hat den größten Teil von ihr einfach mitgenommen.”
“Sie haben ja Recht”, sagte sie ruhig. “Ich kannte sie nicht. Aber ich kenne eine Menge Frauen, die wie sie sind. Obwohl ihre Geschichten sich unterscheiden, ist das Ende doch immer dasselbe. Die Kinder leiden. Sie haben gelitten, Harris.” Sie streckte die Hand aus, um ihn an der Schulter zu berühren. Doch er wich zurück, und so ließ sie es sein.
“Wir sind gut zurechtgekommen”, erwiderte Harris.
Ella hörte Bobbys Stimme in ihrem Kopf.
Sei nicht böse auf sie, Ella
. Sie hielt sich zurück, nicht weil sie mit Harris übereinstimmte, sondern weil sie ihn nicht befremden und verunsichern wollte, jetzt, wo er sich ihr zum ersten Mal öffnete. Ihr Herz blutete, wenn sie über die Kindheit nachdachte, die er mit diesen Eltern erdulden musste. Aber für seine Mutter konnte sie kein Mitleid empfinden. Was sie immer wieder erstaunte, war, wie die Kinder ihren Müttern vergaben, egal, wie schlimm, schmerzhaft und offensichtlich die Vernachlässigung war.
Am anderen Ufer konnte man den hohen, schrillen Ruf des Fischadlers hören. Harris und Ella sahen hinüber zu dem Nest. Das Männchen hockte oberhalb davon auf einem Ast und hatte einen schlanken, glitzernden Fisch in seinen Krallen. Mit seinem schwarzen Gesichtsgefieder wirkte er wie ein Bandit. Mit seinem mächtigen Schnabel hackte er Stücke aus seiner Beute. Das Adlerweibchen saß noch immer im Nest und beobachtete, wie er fraß, bis sie es nicht mehr länger aushielt und einen klagenden Laut ausstieß. Als das Männchen seine Mahlzeit beendet hatte, brachte er die Reste des Fisches zum Nest, damit auch das Weibchen etwas fressen konnte.
“Er kümmert sich rührend um seine Partnerin”, sagte Harris anerkennend über die Fischadler.
Ella betrachtete Harris, der zusah, wie das Männchen wieder davonflog, um zu jagen, und dachte, dass einen Fischadler verstehen auch Harris verstehen hieß. Ortsgebunden. Ein guter Versorger. Aber wie sah es mit der Treue und Monogamie aus? Er hatte sich von Fannie scheiden lassen – das passte nicht ins Schema.
“Was ist mit Fannie geschehen?” fragte sie, obwohl sie spürte, dass sie das Thema lieber nicht mehr aufgreifen sollte. Doch sie musste es wissen. “Ich hörte, sie war auch abhängig? Hat sie Sie deshalb verlassen?”
Er lachte kurz und voller Bitterkeit auf. “Mein Leben scheint eine Geschichte voller abhängiger Frauen zu sein.”
“Nein”, sagte sie freundlich. “Es scheint vielmehr die Geschichte eines Mannes zu sein, der sich um abhängige Frauen gekümmert hat. Es ist kein Wunder, dass Ihre Mutter und Fannie sich so gut verstanden haben. Sie waren vom selben Schlag. Ich wette, Fannie hat ihre Mutter trinken lassen, während sie sich um sie kümmerte.”
Harris wurde bleich. “Niemand konnte sie davon abhalten, wenn sie wirklich trinken wollte.”
“Wenn sie das Haus nicht verlassen hat, wie kam sie dann an den Alkohol?”
“Alkoholiker sind sehr einfallsreich. Wenn Sie das nicht wissen, wissen Sie nicht, wie es ist, mit einem solchen Menschen zusammenzuleben. Lieferungen, Freunde, mit ein paar Dollars lassen sich viele helfende Hände finden … Ja, Fannie auch, da bin ich mir sicher. Ich habe das Zeug immer in den Abfluss geschüttet. Es war egal, wo sie es herhatte, was zählte war,
dass
sie
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