Dem Himmel entgegen
Fannie um.
“Gehen Sie”, presste sie hervor. “Sie machen die Sache nicht gerade einfacher – weder für mich noch für sie.”
Als sie die Stimme ihrer Mutter hörte, rastete Marion aus und streckte die Arme aus. “Geh nicht. Geh nicht! Ich will, dass Mama das macht.”
“Marion, sie kann das nicht. Sie weiß nicht, wie man das macht. Jetzt hör auf. Wir haben das doch schon hundert Mal gemacht. Du musst keine Angst haben. Komm, Süße, sei lieb.”
“Ich will nicht lieb sein. Ich will nicht, dass du irgendetwas tust. Ich will Mama!” weinte Marion Mitleid erregend und streckte die Arme nach ihrer Mutter aus.
Ella atmete tief durch und wischte sich erschöpft eine Locke aus dem schweißnassen Gesicht. Sie hasste es zu fragen, aber überwand sich doch: “Fannie, könnten Sie mir helfen?”
“Ich?” fragte diese und straffte die Schultern. “Oh, mein Gott. Was kann
ich
denn tun?”
“Sie könnten sie festhalten. Sie beruhigen.” Sie atmete erneut tief durch. “Sie will
Sie.”
Zögerlich verließ Fannie ihren Platz an der Tür. “Ja, sicher. Denke ich …” sagte sie, betrat das Bad mit einem unsicheren Lächeln und streckte ihrer Tochter die Arme entgegen. Unbeholfen hob sie Marion auf ihren Schoß und ließ sich mit ihr auf dem Toilettensitz nieder. Marion klammerte sich wie eine Ertrinkende an sie und rang nach Luft, während Fannie ihren Kopf streichelte, beruhigend summte und sie hin- und herwiegte.
Ella musste sich abwenden. Als Marion ein bisschen ruhiger geworden war, atmete Ella durch, straffte die Schultern und sammelte sich. Entschlossen ging sie mit dem Testset auf Marion zu. Nun war sie ganz Krankenschwester. Obwohl das Kind sich verspannte und jammerte, hatte es sich in den Armen seiner Mutter so weit beruhigt, dass Ella sie testen konnte. Fannie befolgte die Anweisungen, und Ella konnte den Test schnell durchführen. Marions Insulinwerte waren hoch, doch damit hatte Ella gerechnet. Trotzdem freute sie sich, dass die Werte nicht noch schlechter waren, und nachdem sie die Dosis berechnet hatte, gab sie Marion die Spritze.
Nachdem sie ihre Pflicht erfüllt hatte, packte Ella ihre medizinische Ausrüstung zusammen und verließ das enge Badezimmer. Weder Fannie noch Marion schienen zu bemerken, dass sie wegging. Vor der Tür lehnte sie sich an die Wand, schloss die Augen und lauschte dem Mutter-Kind-Gespräch im Bad. Sie fühlte sich so bemitleidenswert wie ein Hund unter dem Tisch, der darauf wartet, dass ein Leckerbissen für ihn abfällt.
“Das ist ganz schön schlimm, dass du Diabetes hast”, hörte sie Fannie zu Marion sagen. “Ich wünschte, ich hätte die Krankheit und nicht du, Honigspatz. Ich würde mir die blöden Spritzen geben lassen. Und nicht du. Es ist furchtbar.”
“Ich hasse die Spritzen.”
“Ich auch.”
Marion zog geräuschvoll die Nase hoch. “Mama, bist du weggegangen, weil ich ‘Betes habe?”
“Oh, nein, mein Schatz!” erwiderte Fannie schnell. “Das darfst du nicht denken, mein Engel. Mama wusste doch gar nicht, dass du Diabetes hast.”
“Warum denn dann, Mama? Warum bist du gegangen?”
Fannie wiegte Marion sanft hin und her und drückte sie an sich. “Oh, ich weiß es nicht, Süße. Das ist eine ganz komplizierte Erwachsenen-Geschichte. Aber es hat überhaupt nichts mit dir zu tun. Es tut mir so Leid, dass ich dich verlassen habe. Wirklich.”
“Geh nicht wieder weg, Mama. Bitte …”
“Sei still, meine Kleine.”
Ella presste ihre Hand auf den Mund und entfloh der Enge des Hauses. Sie konnte es nicht mehr länger ertragen. Marion war wie ein kleiner Jungvogel, der verzweifelt nach Liebe schreit. Und Ella hatte so viel Liebe, die sie ihr geben konnte. Was ihr das Herz brach – was Ella akzeptieren musste, egal wie weh es auch tat –, war die Tatsache, dass Marion sich nach der Liebe ihrer Mutter verzehrte und nicht nach der ihren.
Sie rannte die Verandatreppe hinunter bis in den Hof. Wohin sie lief, wusste sie nicht, und es war auch egal. Ella wollte einfach nur so weit wie möglich fort von dem Haus, das ihr plötzlich zu klein und eng vorkam. Sie hielt an der Ecke des Parkplatzes kurz an und lehnte sich gegen ihr Auto, das sie vom Norden in den Süden gebracht hatte. Sie hatte so viele Hoffnungen in sich getragen auf ihrer Reise von den Bergen zur Küste.
Atemlos strich sie eine Haarsträhne und einige Schweißtropfen von ihrer Stirn. Die feuchte Hitze musste endlich aufhören. Die Luft war so stickig, dass sie das
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