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Dem Himmel entgegen

Dem Himmel entgegen

Titel: Dem Himmel entgegen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mary Monroe
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Gefühl hatte, nicht mehr atmen zu können. Weiter draußen, in der Dunkelheit hörte sie das Gezwitscher ruheloser Vögel, die spürten, dass ein Sturm aufkam.
    Sie blickte zurück auf das Haus, das sich an die Kiefern schmiegte. Es war erst einige Tage her, dass Harris, Marion und sie sich so wohl fühlten, dass sie so gut in das kleine Haus passten. Mittlerweile war noch eine weitere Person aufgetaucht, und plötzlich war das Haus wie ein überfülltes Nest am Ende der Brutzeit. Harris hatte ihr erzählt, wie in der Natur der stärkste Nestling auf dem Außenseiter, der sich nicht wehren kann, herumhackt. Die stärkeren Jungvögel drängen ihn – bösartig und gnadenlos –, bis er an den Rand des Nestes taumelt, den Halt verliert und in den Tod stürzt. Es schien so herzlos, so mörderisch zu sein, und für einen kurzen Moment hasste sie die Vögel für die Grausamkeit, die mit allem verbunden war, was in der Wildnis lebte.
    Vom ersten Tag an – und das schien ihr eine Ewigkeit her zu sein – hatte sie gelernt, wilde Kreaturen nicht länger mit den Augen eines Menschen zu betrachten. Menschen mussten immer abwägen zwischen Gut und Böse; die Gerechtigkeit musste über das Unrecht siegen. Aber in der Natur gab es kein Richtig und kein Falsch. Kein Gut oder Böse. Es war, wie es war. Harris hatte versucht, ihr zu erklären, dass, wenn die Nahrung knapp wurde, die Wahrscheinlichkeit, dass zwei Nestlinge überlebten, größer war als die Wahrscheinlichkeit, dass drei Nestlinge überlebten. Die Jungvögel fochten nur das aus, was seit Millionen von Jahren Bestand hatte. In der Biologie sprach man von dem Überleben einer Spezies. Sie konnte nicht behaupten, dass sie alles verstanden hatte, aber sie versuchte ihren Verstand und ihre Sinne für alles zu schärfen und zu öffnen, was sie umgab. Die Lehren und die Regeln der Natur zu beherzigen.
    Ella lief zurück zum Haus. Sogar im Dämmerlicht konnte sie die Blumen erkennen, die sie mit Marion zusammen auf der Veranda gepflanzt hatte. Langsam kletterte sie die Stufen hoch und sah ihre schlammigen Stiefel neben denen von Harris und Marion stehen. Sie setzte sich auf den windschiefen Schaukelstuhl aus Weiden und erinnerte sich an die Nächte, in denen sie hier mit Marion auf dem Schoß gesessen hatte. Sie hatten sich Geschichten erzählt oder einfach in die Sterne geschaut.
    Dies war ihr Zuhause gewesen. Ihr Nest! Überall konnte sie ihre Spuren entdecken, Beweise, dass sie hier gelebt hatte. Sie konnte nicht leugnen, dass sie sich nichts sehnlicher wünschte, als immer in dem Daunenbett zu schlafen, ihre Haut an Harris hartem Körper zu spüren, dem melancholischen Gesang der Eulen zu lauschen, der durch das Schlafzimmerfenster drang, das Geschirr zu machen oder Marions langes goldenes Haar im Keramikwaschbecken zu waschen.
    Doch heute Nacht fragte sie sich, ob das alles nur gestohlene Momente gewesen waren. Ob sie der überflüssige Vogel in diesem Nest war. Der zusätzliche Esser in dürftiger Zeit.
    Ella rollte sich in dem Schaukelstuhl zusammen und zog ein Bein unter sich. Mit dem anderen Fuß stieß sie sich von Zeit zu Zeit ab und schaukelte sachte. Ein Sturm kam aus dem Nordwesten auf sie zu, eine bedrohliche schwarze Wolkenwand, die Tornados und Regen über die Präriestaaten gebracht hatte und nun auf den Süden zuraste. Oh, er kam, na gut. Sie konnte schon die kühleren Windböen spüren, die die drückende feuchte Luft durchschnitten. Sie schlang die Arme um sich, als sie Donnergrollen über den Sümpfen vernahm.
    Ihre Gedanken schweiften ab, und vor ihrem inneren Auge tauchten Bilder ihrer Mutter auf, die sie in den Arm nahm und mit ihr auf dem Schaukelstuhl hin und her wiegte, wie Ella es gerade tat. Es beruhigte sie, sich daran zu erinnern, wie sie das Herz ihrer Mutter schlagen hörte, wenn sie den Kopf an ihre Brust legte. In den Armen ihrer Mutter fühlte sie sich sicher, sie konnte die Augen schließen und schlafen, egal, welcher Sturm oder schwarze Mann ihr Angst eingejagt hatte.
    Ella hörte auf zu schaukeln und starrte düster in die Nacht hinaus. Sicher wollte Marion ihre Mutter. Das war nur natürlich. Es war etwas, das Ella nicht wegdebattieren konnte. Die Verbindung zwischen Fannie und Marion war tief. In diesem Moment umarmten sie gewiss einander, behütet und geborgen in dem gemütlichen Zimmer unter dem Dach, das von warmem gelbem Licht durchflutet war.
    Und sie saß zitternd und allein in der Dunkelheit. Der Donner ängstigte sie, und sie

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