Dem Himmel entgegen
er sehen, dass Marion die letzte Dosis ihrer Medikamente nicht bekommen hatte. Vielleicht sogar die letzten beiden. Er verfluchte sich selbst, Fannie vertraut und geglaubt zu haben, er könne sie retten, könne ihre Ehe retten oder seine Familie. Alles, was er erreicht hatte, war, das Leben seiner Tochter in Gefahr zu bringen. Aber damit war jetzt Schluss. Endgültig!
Er drehte sich auf dem Absatz um, bevor er die Treppe hochging, und erhob drohend den Finger: “Pack deine Sachen. Ich will, dass du morgen hier verschwunden bist.”
Marion war lustlos, wehrte sich aber nicht und reichte ihm ihren Finger, damit er sie testen konnte. Sie gab keinen Laut von sich, als er die Spritze ansetzte. Endlich hatte sie ihre Medizin bekommen, und Harris nahm sie in seine Arme und hielt sie an sich gedrückt. Gleich würde er einen Arzt rufen. Doch im Moment musste er sie festhalten, für sie da sein, während das Insulin in ihrem Körper arbeitete.
“Dein Daddy ist hier”, sagte er und wiegte sie sacht in seinen Armen. Dabei machte er tausend und ein Versprechen über Dinge, die er ändern würde, um das Leben seiner Tochter besser zu schützen. “Dir wird es bald wieder gut gehen. Alles wird gut werden.”
23. KAPITEL
W ächter-Spezies:
Greifvögel sind eine wichtige Spezies, um Umweltgifte nachzuweisen und Wirkungen und Wege zu erforschen. Als Räuber stehen die Greifvögel an der Spitze der Nahrungskette. Wenn ein Greifvogel durch eine giftige Chemikalie krank wird oder stirbt, hat sich das Toxin schon durch die gesamte Nahrungskette verteilt – von den Pflanzen über die Pflanzenfresser bis hin zu den Fleischfressern. Dann ist es meist schon weitaus höher konzentriert als zu dem Zeitpunkt, als es in die Natur geriet. Eine von acht Vogelarten ist der Gefahr ausgesetzt, in den nächsten einhundert Jahren auszusterben – diese Quote ist seit Beginn der Aufzeichnungen um das Fünfzigfache gestiegen
.
Schon im Morgengrauen saß Harris angezogen und mit einer Tasse Kaffee in der Hand am Frühstückstisch. Er hatte die ganze Nacht an Marions Bett gewacht, damit sie, falls sie Hilfe brauchte, nicht allein war und sich ängstigte. Der Arzt hatte ihm versichert, dass die Krise überstanden und Marion wieder wohlauf war. Aber Harris hatte den Horror und die Angst der Nacht im Dezember wieder gespürt, als er hilflos mit ansehen musste, wie seine Tochter im Wal-Mart einen Krampfanfall bekam.
Das zarte Licht des Morgens hatte die irrationalen Sorgen der Nacht vertrieben, und Harris begann, die Dinge neu zu sehen und zu bewerten. In einer unvoreingenommenen Art, die seltsam beruhigend war, sah er das Muster seines Lebens und seine Entscheidung, aufgereiht wie auf einem Spielbrett. Wenn er nun darauf sah, wurde ihm klar, dass, egal wie er den Würfel warf, er dieselben falschen Entscheidungen immer und immer wieder traf. Er hatte stets geglaubt, dass er die, die er liebte, heilen könne. Wenn er sich nur genug anstrengte, wenn er nur länger arbeitete und wenn er nicht aufhörte, es zu versuchen, glaubte er, sie retten zu können.
Anders als bei den Raubvögeln, konnte er den Punkt nicht erkennen, wann es Zeit war, loszulassen.
Er sah auf seine Armbanduhr. Es war gerade sechs Uhr. Vor Monaten schon hatte er für diesen Tag um acht Uhr eine Flugdemonstration vor dem Vorstand einer Körperschaft vereinbart, der darüber nachdachte, das Center finanziell zu unterstützen. Er hatte auf den Termin am frühen Morgen bestanden, weil es sonst bei dieser Sommerhitze für die Vögel zu heiß wurde. Der Termin mit den potenziellen Geldgebern war zu wichtig, um ihn abzusagen, und Harris hatte am Abend noch mit Maggie zusammen gezaubert, um das Event überhaupt stattfinden zu lassen.
Harris griff nach dem Telefonhörer und wählte Maggies Nummer. Obwohl es so früh am Morgen war, antwortete Maggie schon beim zweiten Klingeln.
“Keine Sorge, ich werde da sein”, sagte sie prompt.
Er lächelte schief. “Ich wollte nur sicher gehen. Ich möchte Marion nicht mit Fannie allein lassen.”
“Ich werde um halb acht da sein.”
Während er den Hörer einhängte, spürte er, dass Fannie angezogen und mit ihrem Seesack über der Schulter in der Tür stand. Sie hatte gehört, was Harris am Telefon zu Maggie gesagt hatte.
“Entschuldige, Harris.” Sie klang zerknirscht. “Ich wollte Marion nicht wehtun. Ich liebe sie doch. Und ich habe mein Bestes versucht.”
“Ich weiß.” Er war nicht mehr länger wütend auf sie. Eigentlich
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