Dem Himmel entgegen
Fast jeden Tag habe ich ihm frischen Fisch gebracht. Damit er wusste, dass ich da war, habe ich kurz gepfiffen und das Essen dann am Fuße des Baumes liegen lassen. Als er sah, dass ich es war, kam er herunter, hat sich den Fisch geschnappt und ist gleich wieder zu den Eiern zurückgeflogen. Ich habe so gehofft …” Lijah schüttelte traurig den Kopf.
“Nehmen Sie es nicht zu schwer, Lijah. Es braucht zwei Tiere, um ein Gelege auszubrüten.”
“Aber Pee Dee … er war die ganze Zeit über beim Nest. Er hat nicht aufgegeben.”
“Auch wenn der Vater alle erdenklichen Anstrengungen unternimmt, muss er doch das Nest von Zeit zu Zeit verlassen, um zu essen. Die Umstände waren gegen ihn. Die Witterung lässt es nicht zu, die Eier allein zu lassen. Manchmal, wenn das Männchen Glück hat, findet es eine neue Partnerin, die ihm hilft, die Jungen auszubrüten und großzuziehen. Aber das ist sehr selten.”
“Das ist wirklich traurig.”
“Ja, das ist es. Ich weiß genau, wie er sich fühlen muss.”
Etwas in seiner Stimme ließ Lijah aufhorchen. Er wandte die Augen vom Nest und sah Harris an. “Meinen Sie, auch Sie ziehen ihr Kind allein groß?”
Harris sog die Luft tief ein und stemmte die Hände in die Hüften. Zu Fremden sprach er nicht oft über seine persönlichen Umstände und Gefühle. Für ihn war es schmerzhaft, sich einem Menschen anzuvertrauen, den er nicht kannte. Und er konnte nicht nachvollziehen, wie andere sich Fremden gegenüber so frei öffnen konnten. Aber die Ehrlichkeit und die entwaffnende Herzlichkeit und Wärme, die von dem alten Mann ausgingen, ließen seine Bedenken dahinschmelzen. Vielleicht war es auch nur der Wunsch, dem Vater, den er nie hatte, alles zu erzählen und ihn um Rat zu fragen.
“Marions Mutter verließ uns, kurz nachdem das Kind zur Welt gekommen war. Fannie war eine bildhübsche Frau, aber flatterhaft. Sie hatte … Probleme. Aber sie schenkte mir Marion, und dafür werde ich ihr immer dankbar sein. Nicht für einen Augenblick habe ich bereut, meine Tochter bei mir zu haben.”
“Natürlich nicht.”
“Ich tue, was in meiner Macht steht, um für sie zu sorgen. Für ein anständiges Heim, für genug zu essen, für Wärme und Kleidung. Zwar bin ich oft weg, aber ich gebe ihr immer etwas, auf das sie sich freuen kann.” Er zuckte die Schultern und merkte, wie sehr er auf das Verständnis des alten Mannes hoffte. “Es ist nicht leicht. In der Klinik brauchen sie mich, damit ich mich um die verletzten Vögel kümmere, die Tag für Tag eingeliefert werden. Dann gibt es die Vögel, die dauerhaft im Vogel-Center leben und die versorgt werden müssen. Schon für diese Aufgaben brauche ich einige Stunden pro Tag. Und darüber hinaus sammle ich ständig Spenden, beschaffe Geld, schicke Rundschreiben raus und versuche alles Menschenmögliche, um das Center am Laufen zu erhalten. Wenn man so will, muss ich sozusagen auch Futter heranschaffen.”
Er schaute zu dem Adler hinauf, der allein in den Baumzweigen saß. Das Nest neben ihm machte einen trostlosen und verlassenen Eindruck.
“Vom Verstand her ist mir klar, dass ich viel zu tun hatte, dass so viel erledigt werden musste.” Er presste die Lippen aufeinander. “Aber wenn ich noch einmal über die Tage, die Wochen vor ihrer Krankheit nachdenke, merke ich, wenn ich ehrlich bin, dass ich nicht wirklich
da
war. Sicher, ich habe dafür gesorgt, dass Essen auf den Tisch kam, und Geld für die Babysitter bezahlt, aber ich habe nicht richtig
hingesehen
, war nicht mit dem Herzen bei Marion. Wenn ich das getan hätte, hätte ich die Symptome erkannt, hätte gesehen, wie durstig sie war und dass sie abgenommen hatte. Ich hätte gesehen, wie krank und einsam sie wirkte. Ich bin doch ihr Vater – ich hätte es sehen
müssen
. Meine Tochter musste erst Krampfanfälle bekommen, bis ich bemerkte, wie es um sie stand. Was für ein armseliger Vater bin ich bloß gewesen?” Er hielt inne. “Also, es stimmt. Ich fühle mich wie der Adler da oben. Sie glauben, Pee Dee hat versagt?
Ich
habe versagt.”
Er wollte, dass Lijah ihm beipflichtete, dass er ihm sagte, was für ein miserabler Vater er war, schuldig im Sinne der Anklage. Vielleicht würden dann die Stimmen in seinem Kopf, die ihn immer und immer wieder für sein Verhalten verurteilten, endlich verstummen.
Lijah aber nickte nur, um zu zeigen, dass er verstanden hatte. Nachdenklich ließ er seinen Blick über die Sümpfe schweifen. Schließlich sagte er: “Es ist ein
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