Dem Himmel entgegen
fühlte sie sich in eine andere Welt versetzt. Die Straße war zu einem schmalen Kiesweg geworden, der von unzähligen Kiefern, Eichen und chinesischem Holunder gesäumt war. Ella fuhr im Schneckentempo den Weg entlang und kurbelte das Fenster herunter, um die kühle, feuchte Luft ins stickige Wageninnere zu lassen. Zwar war es Januar in South Carolina, aber sie brauchte nicht mehr als eine Fleecejacke, um nicht zu frieren. Nicht einmal Handschuhe oder eine Mütze benötigte sie, so mild war es. In dem Moment spürte sie das erste Mal, seit sie Vermont den Rücken gekehrt hatte, so etwas wie Heimweh. Hier im Süden mussten die Bäume gegen Sand und Sumpf um ein armseliges bisschen Erde kämpfen, um zu überleben, und ihr Blattwerk war blasser und, verglichen mit den Blättern ihrer Brüder im Norden, nicht so saftig und voll. Trotzdem war sie umgeben von dem vertrauten Duft von Gras, Moos, Humus und feuchter Erde. Singvögel trällerten in den Bäumen ihr Lied. Sie spürte ihre Lebensgeister zurückkehren, spürte längst vergessen geglaubte Erinnerungen und Gefühle wieder wach werden.
Sie folgte der gewundenen Straße zu einer Waldlichtung, wo einige Autos parkten. Dort stellte sie den Wagen ab, stieg aus, reckte sich und sah sich um. Hinter einer Wand aus kahlen Bäumen erhaschte sie einen Blick auf ein paar Holzgebäude. Weiter vorne und ein bisschen größer als die anderen Gebäude lag ein so genanntes “Cape Cod”-Haus, ein für diese Gegend typisches katenartiges Gebäude.
Die Arme vor der Brust verschränkt betrachtete sie das weiße Schindelhaus, das sich behaglich an zwei mächtige Sumpfkiefern schmiegte. Das Ganze wirkte wie eine Szene auf einem japanischen Holzschnitt. Auf den ersten Blick machte das zierlich wirkende Gebäude einen einladenden Eindruck, mit seiner langen, schmalen Veranda, dem tief gezogenen Dach darüber und dem soliden Sockel aus rotem Backstein. Die Verandastützen standen kerzengerade. Weißer Rauch quoll aus einem offenen Kamin und verbreitete den köstlichen Geruch von Zedernholz. Aber Wind und Wetter hatten auch ihre Spuren an der Fassade hinterlassen, und der Garten wirkte verwildert. Auf der Veranda standen zwei hübsche Weidenstühle, eiserne Gartengeräte, Gummistiefel und ein altes Fass mit Holzscheiten. Das alles unterstrich den etwas verwahrlosten Charme des Hauses und machte es zu einem Heim, in dem wirklich gelebt wurde.
Man merkt, dass hier ein Mann wohnt, dachte Ella bei sich.
Sie ließ ihre Taschen im Auto stehen, setzte die Brille ab und steckte ihr langes braunes Haar mit einer Spange hoch. Es erforderte all ihren Mut, auf das Haus zuzugehen. Unsicher strich sie ihren langen khakifarbenen Rock glatt. Wenn alles gut lief, würde sie hier, inmitten der Wälder, für die nächsten zwölf Monate ein neues Zuhause finden. Ganz eng würde sie mit der Familie in diesen Mauern zusammenleben und einem Mädchen beibringen, mit dem Diabetes zu leben. Vielleicht würde sie dabei auch den Sinn ihres Lebens und die Freude daran zurückgewinnen. Sie straffte die Schultern und lief über den ärmlich wirkenden Hof, wobei sie sich bei jedem Schritt wünschte, die Bewohner dieses Hauses wären anständig und nett. Leichtfüßig nahm sie die sechs Stufen aus rotem Backstein, die zur Veranda führten, und stellte zu ihrer Erleichterung fest, dass diese einen sauberen und aufgeräumten Eindruck machte. An der Tür hing ein Zettel.
Bitte klopfen. Klingel kaputt
.
Von irgendwoher aus den Bäumen nahm sie das Lied der Spottdrossel wahr. Drinnen lief der Fernseher. Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht, als sie den Arm ausstreckte, um zu klopfen – alles war so herrlich normal. Nur wenige Augenblicke nachdem sie geklopft hatte, wurde die Tür aufgestoßen.
Vor ihr stand ein schlankes, etwa fünf Jahre altes Mädchen, das Ella mit einem misstrauischen Blick aus ihren kornblumenblauen Augen bedachte.
Ella lächelte. “Hallo. Du musst Marion sein.”
Das Kind antwortete nicht.
“Mein Name ist Ella, und ich bin gekommen, um dich kennen zu lernen.”
Das Kind ließ die Tür los. “Du bist aber nicht hübsch”, platzte es heraus.
Überrascht von so viel entwaffnender Ehrlichkeit, lachte Ella laut auf. “Tja, da hast du Recht. Hübsch bin ich nicht. Aber ich bin fröhlich. Und das ist doch viel besser.”
Marion betrachtete sie, offensichtlich unsicher darüber, was sie als Nächstes sagen sollte.
Hinter ihr tauchte die Silhouette eines Mannes aus dem dunklen Flur auf. Ella
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