Dem Himmel entgegen
spürte, dass sie das Thema ruhen lassen sollte, stand auf und zog die Decke bis unter Marions Kinn. Sie beugte sich hinunter, um das Haar aus ihrem Gesicht zu streichen und ihre zarte Wange zu küssen.
“Gute Nacht”, sagte sie sanft.
Marion steckte ihre Hände unters Kopfkissen und schloss die Augen. “Sag Daddy, er soll kommen und mir einen Kuss geben.”
“Das mache ich.”
Ella schaltete die Nachttischlampe aus und folgte dem Lichtstrahl, der durch den Türschlitz aus dem Flur ins Zimmer fiel. Auf dem Weg klaubte sie ein paar Kleider zusammen und klemmte sie unter ihren Arm.
“Ella?”
Sie wandte sich um und blickte in den dunklen Raum. “Ja?” flüsterte sie.
Aus der Dunkelheit hörte sie die schläfrige Stimme des kleinen Mädchens flüsterten. “Ich möchte, dass du die Hasenfrau in dem Buch bist.”
Reglos stand Ella in der Tür, zu gerührt, um auch nur ein Wort zu sagen. In all den Jahren hatte sie sich um Hunderte Kinder gekümmert, hatte zahllose Leben gerettet. Aber nie hatte sie das unsagbar süße Gefühl kennen gelernt, wenn ein Kind seinen Kopf an ihre Brust bettete, während sie ihm eine Geschichte vorlas, oder das besondere Band gespürt, das zwischen einer Frau und dem Kind, das sie liebte, bestand.
Und sie liebte Marion. Wenn sie an Bobby dachte, machte ihr das große Angst.
“Träum süß”, sagte sie und schloss leise die Tür.
Viel später stand Ella an die Holzstütze auf der Veranda gelehnt und starrte in den Sternenhimmel. Die Nacht war klar und frisch und erinnerte sie an die Frühlingsnächte bei ihr zu Hause in Vermont, wenn man nichts hören konnte außer dem Gesang der Nachtvögel und dem Zirpen der Insekten, und wenn die einzigen Lichter, die in der Dunkelheit blinkten, vom Mond und den Sternen kamen.
Dieser Himmel jedoch war typisch für South Carolina. Eine Mondsichel, die man im Norden so klar nie sehen konnte, teilte den Himmel, der gefüllt war mit Sternen, die wie Diamanten auf einem tiefschwarzen Samttuch funkelten.
Zwar blickte sie hier in den Himmel von South Carolina, aber die Erinnerungen an ihren Norden ließen sie nicht los. Die Stimmen und Geschichten ihrer geliebten Tanten, die Bilder aus ihrer Kindheit und die Zuneigung zu diesem Kind vermischten sich, und Gedankenfetzen jagten durch ihren Kopf.
Wenn sie die Augen schloss, konnte sie Bobbys bleiches Gesicht sehen, als sie zum letzten Mal mit ihm sprach.
Zurückblickend hatte sie genau gewusst, wie schlecht es um ihn stand. All ihre Instinkte hatten sie gewarnt. Dieses Mal war die Krankheit zu weit gegangen. Aber ihr Pflichtbewusstsein hatte all ihre Ängste und die leise, warnende Stimme in ihrem Kopf ausgeschaltet. Sie hatte ganz automatisch die Erstversorgung und Aufnahme gemacht und ihn dann auf die Kinderstation geschickt. Wenn sie sich doch bloß die Zeit genommen hätte, um seine kleine Hand zu halten und mit ihm zu reden. Wenn sie doch bloß aufgehört hätte, Fragen zu stellen und Anweisungen zu geben, und stattdessen sein süßes Gesicht noch einmal betrachtet und ihm gesagt hätte, sie würde an seiner Seite bleiben.
Sie wusste, dass sie nichts dergleichen hatte tun
können
. Schließlich war sie eine Krankenschwester im Dienst. Und die Nacht war arbeitsam und hektisch gewesen. Und dennoch …
9. KAPITEL
E rnährung:
Greifvögel sind anpassungsfähig und genügsam. Sie wissen nie, wo und wann sie das nächste Mal Beute schlagen. Der Kropf ist eine Ausbuchtung in ihrer Speiseröhre, in der sie große Mengen Futter aufbewahren können, so dass ein Raubvogel mit gefülltem Kropf fünf bis sieben Tage überleben kann, ohne weitere Nahrung aufzunehmen. Greifvögel schlucken ihre Beute oft im Ganzen. Das Fell und die Knochen der Beutetiere werden später als so genannte Gewölle ausgespien. Biologen, die die Gewölle untersuchen, können dabei viel über die Ernährung und die Lebensweise der Tiere lernen
.
In der Nacht hatte es geschneit. Im Rutland General Hospital stand Ella Elizabeth Majors am Fenster und sah verträumt den Schneeflocken hinterher.
“Sieh! Es schneit!” hörte sie eine aufgeregte Stimme neben sich rufen. “Ist das zu glauben?”
“Kann nicht sagen, ob es zu glauben ist”, erwiderte sie und lächelte Schwester Denise, einer Kollegin auf der Kinderstation, zu. “Es hat schon vier Mal geschneit, und wir haben erst November.”
“Ich glaube immer noch jedes Mal, dass es Magie ist”, sagte Denise und stellte sich neben Ella. Sie verschränkte die Arme vor
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