Dem Leben entrissen: Aktuelle authentische Kriminalfälle (German Edition)
ist.
Der Massengentest dauert Wochen und Wochen. Dass die Ermittler dem Täter schon dicht auf den Fersen sind, ahnen sie zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Es spricht sich schnell herum in Leipzigs Süden, dass nunmehr alle Männer zu diesem Speicheltest gebeten werden.
Der Ermittlungsdruck wächst. Einige Wochen lang kann man vor dem Test davonlaufen, indem man nicht öffnet, wenn die Beamten klingeln, sich einfach tot stellt, nicht auf die Anschreiben reagiert, aber eines Tages – und das weiß auch der Täter – kann man sich der Überprüfung nicht mehr entziehen. Eines Tages werden sie auch auf ihn stoßen. Die Schlinge zieht sich langsam zu. Immer enger.
Insgesammt 297 Spurenakten, dazu drei Bände Fotos, ein Band mit DNA-Untersuchungen und Kriminaltechniksonderbänden. Fast 180 Beamte. Fast 20000 Hinweise. Fast 10000 Befragte. Fast sieben Monate.
Am Vormittag des 8. März’, es ist ein Sonntag, einige Stunden vor dem angekündigten Besuch der Polizei und exakt 202 Tage nach der Tat erscheint ein junger Mann mit seiner Mutter bei einer Polizeidienststelle. Es ist Daniel V. – Michelles Mörder.
»Ich war ein ungewolltes Kind «
Daniel V. wird mit Trisomie 8 geboren.
Trisomie 8, auch unter dem Namen Warkany-Syndrom 2 bekannt, ist ein genetischer Defekt. Es ist eine sehr seltene Erbkrankheit. Das Chromosom Nummer Acht liegt hier nicht – wie es normal wäre – in jeder Körperzelle doppelt vor, sondern in allen oder auch nur einigen Zellen dreifach. Es gibt Trisomien verschiedener Chromosomen beim Menschen, manche führen zu schwerwiegenden Folgen beim Betroffenen, andere nicht.
Heilbar ist keine von ihnen, lediglich die Symptome kann man behandeln.
Trisomie 8 zeigt sehr unterschiedliche Ausprägungen, das klinische Bild ist »variabel«. Es hängt davon ab, wie viele Zellen »trisom« sind, also wie hoch der Anteil der Zellen mit dreifach vorliegendem Chromosom Nummer 8 ist.
Die äußerlich sichtbaren Anzeichen für eine Trisomie 8 sind vielfältig und nicht alle treten auch bei jedem Betroffen auf. Es können körperliche Auffälligkeiten sein wie: hohe Stirn, kurzer Hals, schmale, abfallende Schultern, langgestreckter Brustkorb, breite Nase, Besonderheiten an den Fußsohlen (Furchungen), tief angesetzte Ohren und oft ein überdurchschnittliches Gewicht.
Oft erreichen die geistigen Fähigkeiten das Durchschnittsniveau nicht, das ist jedoch nicht zwingend der Fall. Es sind auch Betroffene bekannt, bei denen sich kaum Symptome finden, auch das Erreichen normaler Intelligenzleistungen ist durchaus möglich.
Sein Verteidiger wird ihn später einen »zurückgebliebenen Teenager« nennen, aber ist Michelles Mörder das wirklich?
Daniel V. wächst bei seiner Mutter, einer Bibliothekarin, auf. Auch die Großmutter kümmert sich um den Jungen. Der Vater habe ihn nicht gewollt, so sagt er später aus.
Er ist ein dickliches Kind. Die Mutter bezeichnet ihn als »gutmütigen tapsigen Teddy« und empfindet ihn doch zunehmend als »anstrengend«. Weil er mit anderen nicht umgehen kann, schirmt sie ihn ab.
Daniel V. besucht die 25. Grundschule in der Martinstraße – Michelles spätere Schule. Danach wechselt er auf eine nahe gelegene Mittelschule.
Er fällt durch Wutausbrüche auf. Schon beim geringsten Anlass reagiert er unbeherrscht. Kontakte zu Gleichaltrigen, Spielgefährten hat er nicht. Daniel sucht vielmehr die Nähe zu Erwachsenen oder zu deutlich Jüngeren.
Sein Hobby ist das Hockeyspielen. Er machte den Trainerschein und betreut Jüngere. Im Prozess sagt er aus, auch Schwimmen und Tanzen hätten ihn interessiert, doch dazu habe ihm die Zeit gefehlt.
Sein genetischer Defekt führt bei ihm vor allem zu Bewegungsstörungen – Daniel V. ist ungelenk und noch dazu übergewichtig. Die anderen Schüler verspotten ihn. Es wird gestichelt, niemand will mit ihm befreundet sein. Der Junge wechselt dreimal die Schule, weil es immer wieder Probleme mit seinen Mitschülern gibt.
Daniel V. selbst sieht seine Kindheit als unglücklich. In all den Jahren habe er keinen richtigen Freund gehabt, eine Freundin schon gar nicht, er sei oft gehänselt worden.
Erste Annäherungsversuche ans andere Geschlecht scheitern. Als 16-Jähriger schreibt er einem Mädchen einen Liebesbrief. Der Brief bleibt unbeantwortet, sie ignoriert ihn, er wagt es nun nicht mehr, Mädchen anzusprechen. Ihm habe die männliche Begleitung gefehlt, äußert V.s Verteidiger vor Gericht, zu Hause habe das Thema Sex nie eine Rolle
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