Dem Leben entrissen: Aktuelle authentische Kriminalfälle (German Edition)
Totenflecken an den Beinen. Stellen, auf die nach dem Tod gleichförmig und anhaltend Druck ausgeübt wird, zeigen keine Totenflecken.
Nach etwa sechs Stunden kann die Lage dieser Flecken nicht mehr verändert werden. Verändert man die Position einer Leiche in einem Zeitraum zwischen sechs und zwölf Stunden nach dem Tod, so lagern sich die Totenflecken nur unvollständig um. Danach bleibt die Lage dieser Flecken erhalten, egal in welche Stellung die Leiche gebracht wird.
Auf Michelles Rücken finden die Rechtsmediziner ausgeprägte Totenflecken, an den Armen nur geringfügige, an Unterschenkeln und Füßen jedoch keine. Das spricht dafür, dass ihre Leiche nicht langgestreckt gelagert wurde. Am Körper des toten Kindes werden zudem musterförmige Aussparungen festgestellt, die sich durch längeres Aufliegen in die Haut gedrückt haben. Eine von ihnen sieht aus wie ein wenige Zentimeter großer Dreizack, die andere ist größer und hat eine Gitterstruktur. Der »Dreizack« könnte ein Klickverschluss aus Plastik gewesen sein, wie er sich an Taschenverschlüssen befindet, der andere Abdruck könnte von einem Wäschetrennnetz aus einem Koffer stammen.
Zudem gibt es keinerlei Insektenbefall. In den Sommermonaten ist damit jedoch auf jeden Fall zu rechnen, wenn eine Leiche für Fliegen zugänglich gelagert wird. Auch Fäulniszeichen finden sich keine.
Die Schlussfolgerungen sind eindeutig: Michelles Leiche befand sich mindestens zwölf Stunden lang in embryonaler Haltung, in einem dicht schließenden Behältnis an einem kühlen Ort. Die Polizei vermutet einen Koffer oder eine Reisetasche. Um die Vermutungen zu bestätigen, wird eine Rekonstruktion durchgeführt. Dazu beschaffen sich die Beamten eine Puppe, einen so genannten Kinderdummy für Filmaufnahmen, aus Babelsberg. Die bewegliche Puppe wird in Folie eingewickelt, die Lage der Totenflecken und des Schnallenabdrucks werden darauf eingezeichnet. Dann probiert man verschiedene Behältnisse aus, um die Lagerung der Leiche so exakt wie möglich nachzustellen. Danach sucht die SoKo gezielt nach Taschen, Koffern und Rucksäcken mit Schnallen, die zu den Abdrücken passen. Fündig wird sie nicht.
Am Freitag, dem 19. September 2008 wird Michelle an einem geheimen Ort beerdigt. Die Beisetzung findet im engsten Familienkreis statt. Weder Anwältin noch Polizei äußern sich öffentlich. Michelles Familie ist aus Leipzig weggezogen.
Zwei Monate nach Michelles Tod wird die Sonderkommission um mehr als 100 Beamte auf 75 Mitarbeiter verkleinert. Man arbeitet weiterhin sieben Tage die Woche in drei Schichten. Bei Bedarf sei Verstärkung geplant.
Polizei und Staatsanwaltschaft teilen mit, dass »eine Vielzahl von erfolgversprechenden Spuren« vorliege. Zwei Personen hätten sich selbst der Tat beschuldigt, dies habe man jedoch aufgrund der DNA-Analysen ausschließen können. Bisher seien 1400 Hinweise eingegangen.
Ende September hat die Polizei inzwischen mehr als 9300 Leipziger befragt. Eine heiße Spur hat sich nicht ergeben.
Aktenzeichen XY
Mittwoch, 5. November 2008
An diesem Mittwochabend berichtet das Fernsehen über den Fall Michelle. Der Schritt in die Öffentlichkeit wurde lange hinausgezögert – die Ermittler wollten zuerst allen anderen Spuren akribisch nachgehen. Die Polizei hat bisher 1380 Kleingärten untersucht, knapp 9400 Anwohner befragt, fast 600 Zeugen vernommen, etwa 2 500 Spuren ausgewertet und über 1700 Stunden Videomaterial angesehen.
In der ZDF-Sendung Aktenzeichen XY … ungelöst wird der Fall nun noch einmal vorgestellt. Der Leiter der »SoKo Michelle« spricht zu den Zuschauern. Er zeigt das Phantombild eines Mannes, der von der Polizei als »wichtiger Zeuge« gesucht wird. Auch eine rosa Jacke und eine Tasche, wie sie Michelle am Tag ihres Verschwindens dabei hatte, werden gezeigt.
Das Phantombild, das bereits Anfang September angefertigt wurde, zeigt einen 40- bis 50-jährigen Mann, etwa 1,90 Meter groß und kräftig. Nach den Beobachtungen einer Augenzeugin habe er kurze, dunkelbraune Haare und sei mit einem kurzen, bunten Hemd und Jeans bekleidet gewesen. Auf dem gezeichneten Bild stehen die dunklen Haare wirr vom Kopf ab, die Nase ist lang, der Mund verkniffen, die Augenlider zusammengezogen.
Der Mann soll sich am 18. August längere Zeit in der Nähe der 25. Grundschule aufgehalten haben. Der Unbekannte habe sich dort auffällig umgesehen und womöglich auch beobachtet, wie Kinder die Schule verließen, so die Zeugen. Die Polizei
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