Dem Leben Sinn geben
Ohnmächtige sensibel ist, prägt das schlechte Image der Sensibilität in einer Kultur des blinden Siegenwollens, in der Loser zum abfälligen Ausdruck für Verachtung wird, während der Winner bereits Angst davor hat, dass ihn dasselbe Schicksal ereilt. Ein Zeichen wahrer Macht, machtstrategisch ungleich klüger, wäre eine souveräne Sensibilität , ermöglicht von der Selbstmächtigkeit, mit der Menschen darauf verzichten können, um jeden Preis siegen zu wollen, für den Fall aber, dass das Siegen nicht mehr zu vermeiden ist, sich zurückzuhalten. Mit Selbstmächtigkeit und Zurückhaltung ist es möglich, eine eigene Macht über Andere auszutarieren und sie an der gewonnenen Macht zu beteiligen.
Der Sieger, der zur souveränen Sensibilität in der Lage ist, muss seine Position nicht ausreizen und nicht jede eigene Idee durchsetzen. Andere Menschen haben auch gute Ideen, wozu sie niederkämpfen? Nirgendwo steht vorweg geschrieben, welche Idee sich als die bessere erweisen wird. Nicht der Ideengeber entscheidet darüber, sondern die Lebenspraxis, in der eine Idee eine passende Antwort auf drängende Fragen gibt oder auch nicht, und das zeigt sich nicht unbedingt in der Gegenwart, sondern womöglich erst in ferneren Zeiten. Sollte die bessere Idee nicht auf Anhieb Anklang finden, wird sie eben später wiederentdeckt, wie etwa die Idee des Chemie-Nobelpreisträgers Wilhelm Ostwald aus dem frühen 20. Jahrhundert, Energie aus Sonnenlicht statt aus fossilen Energieträgern zu gewinnen. Je größer das Potenzial an Ideen, desto höher die Wahrscheinlichkeit, dass darunter die eine ist, die weiterhilft: So kommt Entwicklung zustande. Die Ideen Anderer gewähren zu lassen, statt sie besiegen zu wollen, bedarf jedoch einer Haltung der Offenheit, besser noch des Wohlwollens – wenn schon nicht des Wohlwollens für Andere, Gegner oder Feinde, so wenigstens für das Leben der Ideen selbst, die über das Leben vieler Menschen hinaus Bestand haben können.
Das Siegenwollen im Umgang mit Anderen treibt eigenartige Blüten hervor, deren bunteste noch nicht die unpassenden Ideen sind, die partout passend gemacht werden sollen. Eine merkwürdige Erscheinung ist auch der Ehrgeiz, als Erster in den Besitz von Informationen zu gelangen, und seien sie noch so unwichtig. Der Sinn eines solchen Informationssieges liegt zunächst darin, als Erster auf Veränderungen reagieren zu können. In vielen Fällen aber geht es nicht um diesen Vorteil, sondern um die umgehende Weiterverbreitung der Informationen mit einem auftrumpfenden: »Weißt du das denn noch nicht?« Thomas Bernhard bezeichnete das als »Mitteilungstriumph« ( Holzfällen , 16), als billigen Triumph derer, die über keine andere Möglichkeit verfügen, sich Zugang zu großen Gefühlen zu verschaffen. Sie brauchen das Gefühl der Überlegenheit und nutzen jede Chance dazu. Je weniger ihr Sieg aber durch eigene Leistung zustande kommt, desto heftiger sind sie dazu entschlossen, ihn auszukosten. Was ihnen im Nacken sitzt, ist die Gefahr, bald schon auf jemanden zu treffen, der seineNiederlage im Kampf um die neuesten Informationen keineswegs einzugestehen bereit ist, sondern einfach zurückblafft: »Das weiß doch jeder!« Es ist sinnlos, im Informationskrieg siegen zu wollen, sinnvoller könnte sein, ihn von vornherein verloren zu geben und auf die neueste Neuigkeit mit vollendeter Ehrlichkeit zu antworten: »Interessant.«
Der Mitteilungstriumph ist eine Methode der Aufmerksamkeitserschleichung und geht nicht selten mit dem Versuch zur Neiderzeugung einher, wenn einer vom realen oder imaginären Barhocker herab betont beiläufig Mitteilungen macht, die den Anderen vor Neid zerplatzen lassen sollen. Niedrig soll er sich fühlen, damit der Mitteilende sich erhaben fühlen kann. Bewundern soll er, wie toll dessen Leben ist, wie reibungslos seine Partnerschaft funktioniert, wie leicht seinen Kindern das Lernen in der Schule fällt, wie prachtvoll seine Geschäfte laufen, wie erholsam sein Wochenende an der Küste gerade eben war, während sein Gegenüber in seinen Problemen untergeht, was sehr bedauerlich ist, aber sicherlich von ihm selbst verschuldet wurde! Zweierlei Antworten darauf sind möglich: Ein klammheimliches Gefasstsein darauf, dass auch beim Mitteilenden nicht alles so bleibt, wie es ist, ganz dem Wellengangprinzip des Lebens entsprechend, das Menschen mal oben, mal unten sein lässt. Und Selbsterforschung: Bin ich selbst frei von der Versuchung zum
Weitere Kostenlose Bücher