Dem Leben Sinn geben
Mitteilungstriumph?
Verbreitet ist außerdem das hilflose Siegenwollen in den Kleinkriegen zwischen zweien zuhause, zwischen Menschen am Arbeitsplatz und in der Öffentlichkeit, wenn einer unbedingt klarstellen will, wer »im Recht ist« und wer nicht, wer die Dinge richtig sieht und wer leider wieder mal völlig danebenliegt: »Habe ich das nicht immer schon gesagt?« Erklärbar ist dieses rätselhafte Grundmuster in menschlichen Beziehungenam ehesten damit, dass die Polarität des Lebens sich auf jede Weise behauptet, auch im Kleinsten und Alltäglichsten. Sie erzwingt das Spiel mit verteilten Rollen, bei dem einer immer siegen will und der Andere immer unterliegen soll.
Die Gegensätze werden noch verstärkt, wenn sich ein Rachegefühl gegen den Anderen einstellt, der dem Selbst nach subjektiver Überzeugung die besten Lebensmöglichkeiten raubt, nämlich dadurch, überhaupt in sein Leben getreten zu sein: Dafür soll er nun abgestraft werden, und dies nicht etwa nur einmal, sondern immer wieder von Neuem. Nur das Selbst, das mit sich und seinem Leben im Reinen ist, kann sich auch hier in Selbstmächtigkeit und Zurückhaltung üben und muss nicht in allen unterschwelligen Dingen immer die Oberhand behalten. Anders ist dieses Siegenwollen kaum zu mäßigen.
Sind Sieger und Verlierer aber nicht mehr erkennbar, lässt dies nicht zwangsläufig auf die Abwesenheit von Kriegen schließen. Menschen sind imstande, sich bis zur Unkenntlichkeit auf feindlichen Positionen einzugraben, allenfalls Sandsäcke sind noch sichtbar, hinter denen sie sich verschanzen, und himmelhoch aufgeschichtet sind die Sandsäcke der Anonymität im Internet. Selbst wenn niemand zu sehen ist, der auf sie schießen will, zielen Menschen aus der sicheren Deckung heraus mit zugespitzten Meinungspfeilen auf Andere, die »einfach nichts begreifen wollen«, und auf alle Welt, die sich nach ihrer festen Überzeugung gegen sie verschworen hat.
In diesem Schützengrabenleben kommt jede eigene Bewegung des Lebens zum Stillstand, jede Bewegung Anderer tritt umso deutlicher hervor und wird unentwegt hermeneutisch umkreist. Das Interesse konzentriert sich auf immer kleinere Details, auf den Muskel, der heute anders zuckt als gestern,die Kleiderfarbe, die sich verdächtig verändert hat, die Färbung des gesprochenen Worts, die eine klare Absicht verrät: Jedes Mienenspiel, jede modische Volte, jedes unbedachte Wort kann etwas bedeuten. Sollte in einer solchen Situation noch irgendwo ein Fünkchen Reflexion und Selbstreflexion glimmen, wäre es ratsam, die Tür ins Auge zu fassen und bei der nächstbesten Gelegenheit Reißaus zu nehmen, einen Zug oder ein Flugzeug zu besteigen, um auf diese oder irgendeine andere Weise alles hinter sich zu lassen und schon mal räumlich die Weite wieder zu gewinnen, die im Schützengraben außer Blick geraten ist.
Von der Kunst, das Weite zu suchen
Einige Möglichkeiten stehen zur Verfügung, wenn es darauf ankommt, aus der Enge einer Situation und der Engführung des eigenen Selbst auszubrechen. Die naheliegendste ist, die Flucht zu ergreifen , eine erste Bedeutung der Kunst, das Weite zu suchen. Der Umgang mit Anderen, mit geliebten Menschen und Freunden, auch mit Kollegen, insbesondere aber mit Feinden, erfordert nicht immer und unter allen Umständen, die Liebe zu ihnen zu bewahren. Manchmal ist die Rettung vor ihnen ratsamer, nichts wie weg hier!
Eilig das Weite zu suchen ist sinnvoll, um einen bösen Impuls wegzutragen, sei es einen eigenen oder einen von Anderen herrührenden, der in zu großer Nähe nur Schaden anrichten würde. Dazu dienen Eskapaden , Sprünge zur Seite, die nicht nur im Reitsport so genannt werden: Jede und jeder ist fähig zu Seitensprüngen, eigenwilligen Handlungen, abenteuerlichen Unternehmungen, verrückten Ausbrüchen aus demAlltag, nächtelangen Ausflügen, tage- und wochenlangen, vielleicht monate- und jahrelangen Abwesenheiten, auch als Pilgerreisen getarnt (»Ich bin dann mal weg«), manchmal mit Affären verwoben. In der Hoffnung, mit dem Blick von außen, der die Wichtigkeiten neu ordnet, wieder zurückkehren zu können, ansonsten aber wegzubleiben, bis auf Weiteres, äußerstenfalls für immer. Das Leben auf dem Planeten Erde bietet ausreichend Raum , um sich aus dem Weg gehen zu können, und ausreichend Zeit , um eine unüberwindlich erscheinende Aversion allmählich wieder abzubauen.
Eine zweite Bedeutung der Kunst, das Weite zu suchen, ergibt sich aus der Zuwendung zu sich
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