Dem Leben Sinn geben
fürchterlicher. So groß kann die empfundene Schmach dann sein, dass zumindest vorübergehend ein Weiterleben kaum noch denkbar erscheint. Daraus ergibt sich die Maxime: Nie siegen wollen!
Der Verzicht auf das Siegenwollen fällt leichter, wenn die Verluste klarer werden, die Siege mit sich bringen können. Nur in der formalen Logik, die Widersprüche ausschließt, kann der, der siegt, nicht zugleich verlieren. Die Logik des Lebens aber hegt offenkundig eine Vorliebe für Widersprüche, sodass Siege nicht nur den Besiegten, sondern auch den Sieger zum Verlierer machen können. Historisch scheinen Pyrrhussiege vorzuherrschen, benannt nach dem griechischen König Pyrrhus von Epirus, der nach einem verlustreichen Sieg über die Römer bei Asculum in Süditalien 279 v. Chr. gesagt haben soll: »Noch so ein Sieg, und wir sind verloren!« Noch früher hat Aischylos nach dem griechischen Sieg über eine persische Übermacht bei der Seeschlacht von Salamis sicherlich die Sieger selbst im Auge, als er 472 v. Chr. in seiner Tragödie Die Perser den Geist des Dareios zu den vernichtend Geschlagenen sagen lässt: »Seid gewarnt, so tief fällt, wer sich zu hoch hinaufschraubt« (Übersetzung Durs Grünbein). Aber auch einNapoleon wollte davon nichts wissen, und so besiegelte sein Sieg über die zaristischen Truppen 1812 vor Moskau den Anfang von seinem Ende.
Im Moment des Sieges sind schon viele Kriege verloren gegangen. Aus dieser Einsicht ging nach dem Zweiten Weltkrieg, dem absoluten Tiefpunkt einer jahrhundertelangen Serie wechselseitiger Siege und Niederlagen, die deutsch-französische Versöhnung hervor. Außer der Politik liefern auch Wirtschaft, Gesellschaft, Sport und private Erfahrungen reiches Anschauungsmaterial dafür, dass Siege sich früher oder später gegen den Sieger kehren und ihm schwer zu schaffen machen, aus verschiedenen Gründen: Der Aufwand , der für den Sieg erforderlich ist, schwächt den Sieger selbst so sehr, dass er zusammenbricht. Hat er sich auf fremdes Terrain begeben, stehen ihm im Unterschied zum Unterlegenen, der ortskundig ist, geringere Ressourcen zur Verfügung. Die Überwältigung, die jedem Sieg eigen ist, findet eine Antwort in offener Auflehnung gegen den Sieger oder in einer verschwiegenen Ablehnung , die ihm erst recht das Leben schwer macht. Erbitterte Feindschaften trägt der Sieg ein, tief eingegraben in die Mentalität des Besiegten, der über lange Zeit hinweg auf Rache sinnt.
Der Besiegte hat ein neues Ziel vor Augen, aus dem ihm Sinn und somit frische Kräfte zuwachsen. Der Sieger aber muss vom Moment des Sieges an die teleologische Sinngebung , die feste Größe des Ziels, das der Sieg für ihn darstellte, entbehren. Plötzlich fällt für ihn die Herausforderung weg, die jede Anstrengung zu lohnen schien. Der Andere, der zu besiegen war, kann seiner Rolle als Antreiber nicht mehr nachkommen, bis auf Weiteres. Der Sieger aber wird übermütig. We are the champions (Queen, Popsong, 1977): So fühlen Sieger sich und so plärrt es bei gegebenen Anlässen aus den Lautsprechern derFußballstadien. Sieger rechnen den Erfolg ihrem überragenden Können zu, von dem sie zutiefst überzeugt sind, aber die zufälligen Umstände , die daran wohl auch beteiligt waren, können beim nächsten Mal schon ganz anders ausfallen. »Diese Mannschaft wird auf Jahre hinaus unschlagbar sein«, verkündete 1990 der Trainer des frisch gekürten Fußballweltmeisters Deutschland, Franz Beckenbauer. Es tat ihm leid für den Rest der Welt, aber das war unnötig: Besser können Gegner kaum motiviert werden, und so schrumpften die Jahre rasch zu Monaten. Bei der nächsten Weltmeisterschaft scheiterte die deutsche Mannschaft bereits im Viertelfinale.
Ausgerechnet das Gefühl der Stärke macht Sieger schwach, nicht zuletzt aufgrund der Zufriedenheit und Selbstzufriedenheit , der sie sich hingeben. Der Zustand mag schätzenswert sein, aber die Trägheit, die sich damit breitmacht, legt alle Entwicklung lahm, zu Veränderungen und Verbesserungen besteht kein Anlass mehr. Im Gefolge des Rausches, der sich dem süßen Gift des Erfolges verdankt, geht alle kluge Rücksicht, Umsicht, Vorsicht und Voraussicht verloren: Was soll jetzt noch passieren? Innerhalb von zwei Jahrzehnten fand sich auf diese Weise der selbsternannte Sieger im historischen Duell Kapitalismus gegen Sozialismus nach zahlreichen »Deregulierungen« am Rande des Abgrunds einer einstürzenden Weltwirtschaft wieder. Der Rausch des Sieges und
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