Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Dem Leben Sinn geben

Dem Leben Sinn geben

Titel: Dem Leben Sinn geben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Schmid
Vom Netzwerk:
der ich umgetrieben werde, kann ich ersatzweise auf Dinge wenden, die kein Problem damit haben, dass ihnen etwas angetan wird. Alles, was der Andere sagt oder verschweigt, tut oder unterlässt, kann ich fortan der Kategorie des Schicksals zuweisen: »Es ist, wie esist.« In Gedanken kann ich mir vor Augen führen, dass der Andere, wie ich selbst, nur ein Knotenpunkt in der Vernetzung ist, die der jeweils herrschende »Diskurs« darstellt, in dessen Rahmen er spricht und handelt. Der Diskurs reicht über den einzelnen Menschen weit hinaus und hält Positionen bereit, die ihn dies sagen und jenes tun lassen, eingebunden in die Notwendigkeiten des Netzes, gleichgültig gegen die Bedeutung, die ein Mensch sich selbst zumisst, sodass sich sagen lässt: »Wen kümmert’s, wer spricht!« (Michel Foucault, »Was ist ein Autor?«, Vortrag, 1969; Zitat nach Samuel Beckett, Texte um Nichts , 1954).
    Wie ist den Zwängen des Diskurses zu entkommen? Indem ein Mensch sich seine Funktion in diesem Rahmen so weit wie möglich bewusst macht und sich Anderen zuwendet, die ihm mit dem Blick von außen helfen, die eigene Rolle wahrzunehmen. Mit ihrer Hilfe gelingt es besser, wieder aus sich herauszukommen , eine vierte Bedeutung der Kunst, das Weite zu suchen. All das, was mich in die Enge gedrängt hat, mag es von Anderen, Dingen, Situationen oder mir selbst verursacht worden sein, kann ich nun vertrauten Anderen gegenüber äußern und damit nach außen bringen: Jede Äußerung, durch die Affekte wie Ärger, Wut, Zorn, Hass Anderen mitgeteilt, mit ihnen geteilt und auf diese Weise zerteilt werden können, entlastet das Innere. Vor allem die Liebe in der Familie hält den Raum dafür offen, der feindseligen Anderen verschlossen bleibt. Mit Kindern umzugehen, eröffnet ganz andere Horizonte, jede Beengung im Ich können sie spielend vergessen machen, zumindest für eine Weile, sodass sich wieder Atem schöpfen lässt. Die Freundesliebe erweist ihre existenzielle Bedeutung in der Trübsal der inneren Beklemmung, aus der das Selbst von selbst nicht mehr herausfindet: Gemeinsam könnendie Freunde dem Sturm äußerer Anfeindungen locker trotzen. Der seelischen Gesundheit höchst förderlich ist ebenso der Austausch mit Kollegen , denen die Situation im Arbeitsumfeld vertraut ist. Selbst dann, wenn die negativen Energien nicht gänzlich zu zerstreuen sind, werden sie mit der Hilfe Anderer auf ein lebbares Maß reduziert.
    Die Flucht ergreifen, Weite im eigenen Inneren gewinnen, das eigene Verhalten verändern und mithilfe Anderer wieder aus sich herauskommen: Eine fünfte Bedeutung der Kunst, das Weite zu suchen, findet sich für denjenigen, der davon Gebrauch machen will, in religiösen und spirituellen Texten, die es ermöglichen, weit über sich hinauszukommen . Wo die Anfeindungen Anderer einen Menschen im Innersten beklemmen, kann ihm die äußerste Weite als rettende Macht erscheinen, vorausgesetzt, er kann ein Gespräch wie im Psalm 31 des Alten Testaments nachempfinden oder auf ähnliche Weise führen: Ein rettendes Gegenüber wird dabei als vertrauenswürdiges Du angesprochen, das zuhört und dem Ich beisteht, es nicht zuschanden werden lässt, sondern »aus dem Netz« zieht, in welchem die, die ihm nachstellen, es wie ein Stück Wild gefangen haben. Geradezu hymnisch besingt der Psalmist dieses Du, das das Ich aus den Händen der verhassten Feinde befreit, denn »du stellst meine Füße auf weiten Raum«. Das Du, das fähig ist, einen Menschen der Hand seiner Verfolger zu entreißen, verfügt über Kräfte, an denen das Ich teilhaben kann, sofern es nur darauf vertraut und daran glaubt, »denn du bist meine Stärke«.
    Alle Gedanken und Gefühle weiten sich, sobald ein Mensch sich auf den Inbegriff der Weite einlässt, auf eine vorgestellte und gefühlte Dimension der Unendlichkeit, die weit über die menschliche Endlichkeit hinausreicht. Das über diese Weiteverfügende Du, das nicht genauer benannt wird, ob seiner offenkundigen Macht aber in diesen Texten als »Herr« tituliert wird, erscheint als Gestalt mit einem Gesicht, das an einen Menschen erinnert und doch keiner sein kann, da ein Mensch im Verhältnis dazu doch nur ein »Knecht« ist: »Lass leuchten dein Antlitz über deinen Knecht«.
    Was in diesem Antlitz aufleuchtet, ist jedenfalls für den, der es zu sehen vermag, eine Weite und Zeitlosigkeit, angesichts derer jedes Geschehen zwischen zeitgebundenen Menschen auf dem Sandkorn Erde klein und unbedeutend erscheint.

Weitere Kostenlose Bücher