Dem Leben Sinn geben
Etagen großartige Ausblicke für einsame Menschen freigeben; abgeschnittene Häuser, die bei einem Abbruch übrigbleiben und nur noch der Tristesse eine Heimat bieten. Menschen verlieren sich in dieser Welt und werden zu Fragmenten, an eine Wand gelehnt, in sich gekehrt, den Blick ins Nichts gerichtet. An Haltestellen der Stadtbahn ( The El Station , 1908) stehen sie herum, hantieren nächtens an Zapfsäulen einer Tankstelle im Irgendwo. Von gut gepolsterten Sesseln blicken sie gelangweilt auf den nackten Körper, den eine Tänzerin auf einer Bühne gleichgültig präsentiert. Aus ihren Blicken strahlt keine Liebe zu etwas oder jemandem, nichts kann sie noch reizen. Längst ist ihnen entfallen oder nie in den Sinn gekommen, warum und wozu sie in der Welt sind. Sie wissen nicht, wohin mit sich. Ihre Beziehungslosigkeit malt Hopper viele Male, angezogen vom Sog dieser Leere. Die Bilder fordern zum Innehalten und Nachdenken heraus: Was ist der Mensch in der modernen Welt?
Schon im 19. Jahrhundert sah Friedrich Nietzsche diesen schicksalhaften Moment kommen, in dem der moderne Mensch, heimatlos geworden, sich zur Neubesinnung genötigt sieht: Warum und wozu ist er da, wo kann er noch etwas finden, das seinem Leben Sinn gibt? Nietzsche selbst fand es wichtig, sich nicht nur von Beruf, Familie, Freunden, Glauben, sondern auch von »Gesellschaft, Vaterland, Heimat« zubefreien ( Nachgelassene Fragmente von 1886/87, KSA 12, 197). Und doch hebt er in einem Gedicht unter dem Titel »Der Freigeist« ( Nachgelassene Fragmente von 1884, KSA 11, 329) zur Klage an: »Weh dem, der keine Heimat hat!« Seine Heimat findet er schließlich, wie Zarathustra (»Die Heimkehr«), in der Einsamkeit: »Oh Einsamkeit! Du meine Heimat Einsamkeit!«
Er lebt in der Zeit, in der sich Heimat im Sinne der Bindung an einen festen, angestammten Ort aufzulösen beginnt. Nicht zufällig hat die Heimatforschung ihre Anfänge im 19. Jahrhundert, Heimatmuseen sind die Antwort auf die industrielle Zerstörung von Heimat. Jetzt werden Menschen sich der Bedeutung der Heimat bewusst und versuchen im Moment des Verlusts, wie immer in der Liebe, verbissen an ihr festzuhalten. Die Liebe zur Heimat eskaliert bei denen, die sie verloren haben. Das ganze 20. Jahrhundert hallt wider vom Schlachtenlärm zwischen Bewahrern der guten, alten Heimat, die gegen alles Neue und Fremde auf »Blut und Boden« beharren, sowie Modernisierern , die in der alten Heimat mit ihrer »Enge und Zurückgebliebenheit« nicht mehr leben wollen. Im 21. Jahrhundert führt die Globalisierung, mit der die moderne Welt vom gesamten Planeten Besitz ergreift, zur globalen Auseinandersetzung zwischen denen, die diese moderne Welt inbrünstig hassen , da sie ihre angestammte Heimat bedroht, und denen, die sie hingebungsvoll lieben , da sie selbst zur Heimat für sie wird.
Heimat kann vieles sein, für jeden Menschen etwas Anderes, immer aber ist sie zunächst eine räumliche Heimat , eine Stelle im Raum, in einer menschlichen Siedlung oder in der Natur, in einer gewachsenen oder gestalteten Landschaft. Heimat ist zumeist der Ort, der einen Menschen prägt, ohne dass er ihn sich selbst ausgesucht hat. Er findet ihn vielmehr vor, wächstan ihm auf und kommt somit von ihm her. Diese Herkunftsheimat ist ihm vollkommen vertraut und er liebt sie innig, egal, wie es dort aussieht. Je unübersichtlicher die Welt, desto stärker die Erfahrung einer solchen überschaubaren Heimat.
Die Verwurzelung in einer Region kann geradezu zur Religion werden: Der Rückbezug darauf, die innige Beziehung dazu knüpft Zusammenhänge, in denen ein Mensch sich physisch, psychisch und metaphysisch geborgen fühlt. Menschen können überall daheim sein, immer aber ist dieser Ort das Zentrum der Welt aus subjektiver Sicht, die nicht immer als subjektive Sicht wahrgenommen wird. Heimat gibt es auch am Ende der Welt: »Das Ende der Welt – was ist das?« fragt ein Bauer in einer eisigen, einsamen Gegend Islands. »Was für dich das Ende der Welt bedeutet, ist für mich mein Zuhause« (Jón Kalman Stefánsson, Der Schmerz der Engel , Roman, 2011, 286).
Und wie jede Liebe kann auch die zur Heimat äußerst zwiespältig sein, vermischt mit Gefühlen der Abneigung, ja, des Hasses, ein Ort der Hassliebe im vollen Sinne des Wortes: Ich hasse, was ich liebe, weil es mir zu nahe ist, weil es mich nicht zur Entfaltung kommen lässt oder weil es irgendwelche Gründe dafür gibt, mich meiner Heimat zu schämen.
Wie groß die Liebe
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