Dem Leben Sinn geben
regionaler Besonderheiten sind. Kommt es zu einer starken Verschiebung im Bedeutungsgefüge, wie etwa nach der Wende von 1989 in Ostdeutschland, kann ein Mensch fremd werden im eigenen Land.
So selbstverständlich ist diese Welt, dass ein Mensch seine Heimat oft erst dann als solche erfährt, wenn er sie verlässt, und sei es nur für kurze Zeit: In der gewonnenen Ferne wird die verlorene Nähe bedeutsam. Das aber heißt: Wer die Bedeutung der Heimat für sich genauer kennenlernen will, muss sich von ihr trennen (Sebastian Schnoy, Heimat ist, was man vermisst , 2010). Kehrt ein Mensch dann zurück an den Ort, der seine Heimat war, hat die Zeit den Raum menschlich, topographisch, hermeneutisch so verändert, dass er nicht mehr dementspricht, was in der Vorstellung Heimat war: Heimat ist auch ein Ort der Illusion , der in der Hauptsache in der Erinnerung existiert, ein Grund für die Enttäuschung vieler Vertriebener, Exilanten, Aussiedler, Migranten und moderner Nomaden sowie all derer, die ihre Kindheitsheimat nicht mehr wiederfinden.
Es kann schrecklich sein, nach Hause zu kommen und sich dort fremd zu fühlen, bereits nach kurzer Abwesenheit, umso mehr nach langer Zeit, verlassen von all dem, was geliebt worden ist und was durch die Liebe erst Bedeutung erhielt. In der großen, weiten Welt »da draußen«, inmitten aller Verunsicherungen wurde immer eine Art von Rückversicherung darin gesehen, eine kleine, gemütliche Welt »da drinnen« zu kennen, in der die Welt noch in Ordnung ist. Jetzt aber erscheint alles öde und leer und die ganze Welt, die ausgehend von diesem Zentrum in konzentrischen Kreisen zum Zuhause geworden ist, wird zur Wüste. Kein Problem, wenn das ein momentaner Eindruck ist, der vergeht, schlimm jedoch, wenn er bleibt, denn am zehrendsten ist ein Heimweh ohne Heimat .
Im selben Maße, in dem in moderner Zeit die Bindung an konkrete Orte abnahm, wurde der Heimatliebe eine abstrakte Nation , die »groß« sein sollte, als Objekt angeboten. Ursprünglich galt als Nation, dem lateinischen natio entsprechend, was Menschen per Geburt gemeinsam hatten: Die Herkunft, den Ort, den sozialen Stand. Im Laufe der Moderne wurde daraus die Zusammengehörigkeit von Menschen in einem bestimmten Land im Raum, mit einer bestimmten Geschichte in der Zeit. Sich für die je eigene Nation einzusetzen, galt als Patriotismus . Ursprünglich war ein Patriot mit Bezug auf die Rolle des Vaters ( pater ) derjenige, der sich mit väterlicher Fürsorge um die »allgemeine Wohlfahrt« sorgte. Wörterbücher des 18. Jahrhunderts berichten noch von patriotischen Gesellschaften, die das leisteten, was spätere Zeiten als »gesellschaftliches Engagement« bezeichneten. Die Werte der Französischen Revolution wurden von Patrioten vertreten, die sich zugleich als Kosmopoliten verstanden. In der Folgezeit entstand in vielen Ländern jedoch der nationalistische Patriotismus des 19. und 20. Jahrhunderts mit all seinen blutigen Folgen.
Jedem Einzelnen ermöglichte die Liebe zur Nation, wie eigentlich auch andere Lieben, die Erfahrung einer Transzendenz über sich hinaus, daher konnte in moderner Zeit die Nation als »Vaterland« an die Seite Gottes rücken: »Für Gott und Vaterland!« Für manche vertrat sie sogar die Stelle Gottes selbst, und dies umso mehr, je weniger die Moderne herkömmliche religiöse Erfahrungen bot. Wer sich auf andere Weise um sein Land sorgte und Kritik an Missständen übte, erschien hingegen als »Vaterlandsverräter«. Viel später erst wurde etwa einem Willy Brandt Verehrung zuteil, der eine Liebe zur Nation begründete, die sich nicht blindwütig gebärdet und blind gegen eigene Fehler bleibt, sondern an Verbesserungen arbeitet.
In der Phase der Globalisierung kommen mit anderen Räumen auch andere Arten von Heimat ins Spiel: Technische Geräte der Kommunikation, Laptops, Smartphones, iPads erlauben den permanenten Aufenthalt in einer digitalen Heimat . Die Digital Natives , die Eingeborenen, die in diesem Raum aufgewachsen sind, und die Immigrants , die noch analog zuhause sind, begegnen sich oft mit Befremden. Zugleich lösen immer mehr Menschen die Heimat von einem festen Ort ab und fühlen sich unterwegs zuhause: Zur Unterwegsheimat werden temporär frequentierte Orte wie Raststätten, Bahnhöfe, Flughäfen, mobile Orte wie Autos, Züge, Flugzeuge.
Die über den Wolken dahinziehende Kabine wird zur Heimat des total befreiten Menschen, der nur noch dem Zwang unterliegt, allen Zwängen
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