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Dem Leben Sinn geben

Dem Leben Sinn geben

Titel: Dem Leben Sinn geben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Schmid
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zur angestammten Heimat sein kann, stellten Menschen aus der Umgebung von Tschernobyl eindrucksvoll unter Beweis. Nach der Explosion des Atomreaktors am 26. April 1986 umgesiedelt, kehrten Tausende zurück, trotz aller Verbote, denn als sie wegmussten, »ließen wir die Seelen zurück«, sagte eine alte Frau 20 Jahre nach der Katastrophe: »Und deshalb sind wir wieder hier.« In einer anderen Umgebung war die Vertrautheit und Geborgenheit nicht wiederzufinden, die in der alten Heimat vom Anfang des Lebens an bestand. In einer anderen Umgebung waren andereMenschen zu Hause, die die Neuankömmlinge spüren ließen, dass sie nicht hierhergehörten. Heimat erwies sich außerdem als das Gefühl, gebraucht zu werden: »Unser Land und unser Haus brauchen uns, die Hühner, die Äcker, die Bäume.« Letztlich war die Heimat wichtiger als die tödliche Gefahr der Radioaktivität: Wenn schon sterben, dann wenigstens zuhause. Die Liebe eines Elektrikers gehörte sogar dem Reaktor selbst, dem Betonmonster, Tschernobylskaja atomnaja elektrostanzija , an dem er mitgebaut hatte, an dem seine Seele hing und dessen Explosion ihm wie vielen seiner Kollegen den Lebenssinn raubte: »Tschernobyl war unsere Liebe.«
    Zur »zweiten Heimat« wird ein zusätzlicher, gefundener und gewählter Ort, die Wahlheimat , die im Laufe der Moderne für immer mehr Menschen an Bedeutung gewinnt, da sie dort Beziehung, Arbeit, Freiheit, Zuflucht, neue Impulse finden. Die fraglose Zugehörigkeit steht hier jedoch, anders als bei der Herkunftsheimat, in Frage, zumindest anfänglich, womöglich dauerhaft. Auf Rückkehr in die erste Heimat zu hoffen, erschwert die Verwurzelung in der zweiten. Zweierlei kann das Heimischwerden in der zweiten Heimat dagegen erleichtern: Der Verzicht derer, die schon da sind, diesen Ort als ihr alleiniges Eigentum zu betrachten. Und die Bereitschaft derer, die neu hinzukommen, sich auf diesen Ort einzulassen.
    Die Zugehörigkeit zu einer Wahlheimat kann im Übrigen auch schon empfunden werden, ohne dort gewesen zu sein. Von Berlin heißt es in einem Popsong der Hamburger Gruppe Blumfeld (»Eine eigene Geschichte«, Album L’État et Moi , 1994), dies sei der Ort, »wo die Leute aus Heimweh hinzieh’n«, ein Ort also, von dem Menschen sich Vorstellungen machen, die ihn als Heimat erscheinen lassen, bevor sie wirklich dort leben. Inmitten der großen Stadt erweist sich die Heimat dannaber erneut als Dorf , zu dem das vertraute Viertel oder die eigene Straße wird. »Ein Dorf brauchst du, und wäre es nur, damit du es hin und wieder gern verlässt«, denn ein Dorf, »das bedeutet: du bist nicht allein« (Cesare Pavese, Junger Mond , Roman, 1950, Kapitel I). Sollte die Suche nach Heimat letztlich scheitern, kann das zu einer Heimsuchung für die Betroffenen werden (Jenny Erpenbeck, Heimsuchung , Roman, 2008).
    Heimat kann darüber hinaus nicht nur eine räumliche, sondern auch eine zeitliche Heimat sein, nicht nur ein Ort im Raum, sondern auch eine bestimmte Zeit, erfahrbar im Stil der Zeit . Es muss sich dabei nicht um die Gegenwart handeln, heimeliger erscheint vielleicht ein anderes Jahrzehnt oder Jahrhundert. Großer Beliebtheit erfreuen sich im Rückblick auf das 20. Jahrhundert die 20er Jahre mit ihrer angeblichen Frivolität, die 50er Jahre mit Petticoat und Rock ’n’ Roll, die 70er Jahre mit romantischen Träumen von Frieden und freier Liebe.
    Die Liebe zur zeitlichen Heimat drückt sich im Lebensstil eines Menschen aus, im Stil seiner Kleidung und in Gewohnheiten, in denen er wohnt. Eine sehr große Rolle spielt der Musikstil , der eine Beziehung zur jeweiligen Zeit herstellt und einen Klangraum erzeugt, in dem es sich leben lässt, je nach Vorliebe in der Zeit des Barock, der Wiener Klassik, der Romantik und Spätromantik, der Neuen Musik und Zeitgenössischen Musik. Heimatgefühle vermittelt vielen die Volksmusik der Moderne, die unentwegt die verlorene Heimat besingt und sehr anders klingt als etwa die Volksmusik des Mittelalters. Und sehr viele finden ihre Heimat im weiten Bereich von Rock und Pop, in den Musikstilen von Blues, Country, Soul, Beat, Hardrock, Softrock, Punk, Rap, Techno, House, Blackmetal und vielem mehr. In jedem Musikstück wird die Herkunftszeit hörbar, und immer ist die Liebe zur musikalischen Heimat, wie jedeandere Heimatliebe, eine unbedingte, unabhängig von irgendwelchen Bedingungen: Wie auch immer die Musik sich anhört, wie problematisch eine Zeit oder ein Ort sein mag, welche Geschichten

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