Dem Leben Sinn geben
gestaltlosen Sein, das als Kontinuum der Möglichkeiten vorstellbar ist, aus denen die gegenwärtige Gestalt ursprünglich auch hervorging. Durch die Seinsweise der Möglichkeiten hindurch vollzieht sich der Übergang zu anderen Wirklichkeiten. To be or not to be ist für Shakespeare in der Tat auch abseits von Hamlet die Frage, ob ein Leben über das eigene Leben hinaus möglich ist ( Sonette 3 und 4), wenn schon nicht als Person, so doch als Teil des Seins, aus dem heraus ein anderes Dasein seinen Anfang nehmen kann. Über jedes Dasein in dieser Gestalt hinaus ist ein Dasein in einer anderen Gestalt möglich, und keine Gestalt erschöpft das Sein als Gesamtheit aller Möglichkeiten.
Vielleicht kann der Aufenthalt in der surrealen Dimension des Seins als ontologischer Schlaf verstanden werden, der dem allnächtlichen Schlaf ähnelt, dem Übergang aus der alltäglichen Wirklichkeit in die Traumwelt der Nacht. Auch für den Seinsschlaf könnte Erholung ein Grund sein, die aber anders als beim gewöhnlichen Schlaf nicht nur Körper, Seele und Geistin momentaner Verfassung, sondern dem gesamten Wesen zuteilwird. Mit der Auflösung seiner festen Gestalt erholt und verjüngt es sich und kehrt vermutlich nicht als dasselbe aus dem Möglichsein ins Wirklichsein zurück.
Handelt es sich um eine Wiedergeburt? Vielleicht, aber wohl in veränderter Gestalt. Zumindest ist es denkbar, dass aus dem Energiefeld heraus eine Gestalt reinkarniert , also wieder zu Fleisch, zu einem Körper wird. Ähnlich wie beim Erwachen aus einem Traum könnten dabei bruchstückhafte Erinnerungen an ein früheres Leben wach werden, wie manche Menschen dies an sich beobachten, sodass sie glauben, in anderer Zeit »schon einmal da gewesen zu sein«. Erklärbar wäre mir selbst auch die gelegentliche merkwürdige Empfindung, mich zwar in dieser Wirklichkeit aufzuhalten, die mich umgibt, mich aber fremd in ihr zu fühlen, da ich meine Heimat anderswo sehe, nicht in der Bestimmtheit dieser wirklichen Welt, sondern in der Unbestimmtheit einer anderen. Das wäre dann kein Spuk, der wieder vergeht. Ein Spuk wäre eher das Hier und Jetzt, dem gewöhnlich so viel Bedeutung zugemessen wird und das doch morgen schon von gestern ist.
Dass viele Menschen sich ein anderes Leben über das gegebene hinaus nicht vorstellen können, ist kein Beweis dafür, dass es dieses Leben nicht gibt. Aber auch die, die es sich vorstellen können, können es nicht beweisen, nur annehmen. Wird ein anderes Leben jenseits des Todes angenommen, kann der Tod als ein Hinübergehen von einem Leben zum anderen verstanden werden. Es lässt sich sogar von einem »Heimgehen« sprechen, wie es angesichts des Todes auf der Zunge liegt, und dies nicht nur aus religiösen Gründen: Wenn Menschen heimgehen, so kann das heißen, dass sie zurück zur ewigen Welt der Möglichkeiten gehen, aus der sie gekommen sind,da Möglichkeiten aller zeitlichen Wirklichkeit zugrundeliegen, denn woher sonst sollte eine Wirklichkeit kommen?
Der Einzelne geht zugrunde , aber damit kehrt das Wesentliche an ihm, das ihn leben ließ, zum Grund des großen Potenzials zurück. Vom energiegeladenen Pol, aus dem jedes Leben anfänglich hervorgeht, wandert es zum entgegengesetzten Pol des Energieverlusts, bevor mit dem Tod der Zustand reiner Energie wieder hergestellt wird, der ein neues Werden ermöglicht. So kreist das Leben zwischen Materialisierung, Entmaterialisierung und neuerlicher Materialisierung; es vollendet sich immer wieder dort, wo alle Möglichkeiten schlummern, bevor die Wirklichkeit eines anderen Lebens daraus hervorgehen kann. In der gesamten Natur ist dieser Kreislauf von Werden und Vergehen zu sehen, also kann es sich damit beim Menschen, der doch Teil der Natur ist, wohl kaum anders verhalten. Kann das angesichts des Todes ein Trost sein?
Was kann Menschen trösten?
Diesen Schrei hörte die ganze Stadt. Ein Wohnhaus stürzte bei einer Gasexplosion in sich zusammen. Im Haus der 13-jährige Sven mit seinem Hund Bobby, die Eltern irgendwo anders. Zahlreiche Helfer tragen Stein für Stein den Trümmerhaufen ab, in dem, wie Sensoren anzeigen, noch ein Herz schlägt. Aber es ist das Herz des Hundes, der unverletzt geblieben ist. Den entsetzlichen Schrei stößt die Mutter aus, die nach endlos langen Stunden des Wartens vor den Trümmern davon erfährt. Das Ende jeder Hoffnung. Das Gesicht des Vaters bleibt stumm, versteinert. Als beide gemeinsam über die Trümmer steigen, um ihren toten Sohn zu sehen,
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