Dem Leben Sinn geben
Blickvon ihm zu übernehmen. Unter anderen Bedingungen kann er jedoch zur Belastung für sie werden, vor allem in der modernen Kultur, die davon ausgeht, dass der Tote tot ist und kein Gespräch mehr mit ihm möglich ist, auch sonst kein irgendwie gearteter Austausch, sodass alles, was noch zu sagen wäre, zu Lebzeiten hätte gesagt werden müssen, um nicht für immer im kosmischen Nichts zu verhallen. Was ungesagt und ungelebt bleibt, kann zur Last werden, die nicht aufhört, einen Menschen zu bedrücken. Ungeklärte Fragen bleiben über den Tod hinaus offen und hinterlassen eine traumatische Erfahrung, die nicht mehr ungeschehen gemacht werden kann.
Unweigerlich sind Phasen des Umgangs mit dem Tod zu durchlaufen, wenn ein Mensch gestorben ist, zu dem eine enge Beziehung bestand. Nach der ersten Weigerung, den Tod wahrhaben zu wollen, tut sich das Chaos der Gefühle auf, das Wanken zwischen Wut, Enttäuschung, Empörung, Bitterkeit, Leiden an der Sinnlosigkeit, Mitleid, Selbstmitleid, tiefer Trauer, bevor der Tod akzeptiert werden kann und eine große Ruhe sich einstellt (Verena Kast, Trauern , 1982). Die Trauer kann ein Ausdruck von Liebe sein, manchmal von nachgetragener Liebe, die zu Lebzeiten keinen rechten Ausdruck zu finden vermochte. In moderner Zeit wurde die Trauer dynamisiert zur »Trauerarbeit«, um zu signalisieren, dass der Zustand aktiv angegangen wird, statt ihn passiv geschehen zu lassen. Manche wollen rasch mit dem Tod »fertig werden«, um die Unruhe, die von ihm ausgeht, nicht länger aushalten zu müssen. Den Toten endgültig »gehen zu lassen«, wie dies oft gefordert wird, könnte auch ein Ausdruck dafür sein, selbst von ihm weggehen zu wollen, um zügig ins eigene Leben zurückzukehren.
Aber die Trauer braucht Zeit, sie kann lange währen, abzukürzen nur um den Preis ihrer unvermuteten Wiederkehr. InErinnerungen und an gemeinsam frequentierten Orten kann die Nähe zum Toten gesucht und wieder gefunden werden. Sich über Probleme in der Beziehung zu ihm klarer zu werden, hilft, auf realistischer Grundlage so viel wie möglich von ihm in sich zu bewahren, ihm einen festen Platz im eigenen Selbst zu geben und weiter mit ihm zu leben. Es ist die ausgehaltene Nähe zum Tod, zu diesem radikalen Anderssein, die dazu führt, das Leben mehr als je zuvor bejahen zu können.
Auf die Zeiten der Ungewissheit und Verzweiflung folgen Zeiten der Gelassenheit und Heiterkeit . Sie ergeben sich aus dem Eindruck, dass das Leben weit umfassender ist als das individuelle Leben hier und jetzt, ja, dass es sogar seinen Gegensatz noch mit umgreift, den Tod, der selbst ein Leben ist, wenngleich er nicht die Form eines Daseins annimmt. Inmitten der Trauer wird dies zur Gewissheit: Dass da ein Sein ist, das von alledem unberührt bleibt, ein ewiges Sein durch alle kommenden und gehenden Ichs hindurch, an dem jedoch jedes Ich teilhat. Die Endlichkeit erscheint dann als Ende des Lebens in seiner jeweiligen Gestalt und in dieser Person, die Unendlichkeit als nicht endendes Sein über alle Gestalten und Personen hinaus. In jedem Augenblick und mit jedem Tun und Lassen wird Unendlichkeit zur Endlichkeit, Möglichkeit zur Wirklichkeit. In jedem Augenblick geht Wirklichkeit zugleich vorbei und wird wieder zur Möglichkeit. Über alle Traurigkeit hinaus ist Heiterkeit das Gefühl und der Gedanke, mit der Endlichkeit versöhnt zu sein und sich in einer Unendlichkeit geborgen zu wissen, unabhängig davon, welcher Name ihr gegeben wird.
Wenn Shakespeares Hamlet die berühmte Frage nach dem Sein oder Nicht-Sein aufwirft, wird das Sein meist mit Leben, das Nicht-Sein mit Nicht-Leben identifiziert. Hatte nicht auchschon Seneca den Tod als Nicht-Sein verstanden? »Tod ist Nicht-Sein« ( Mors est non esse , Briefe an Lucilius , 54, 4). Aber mit dem Nicht-Sein kann ganz im Gegenteil das Leben, mit dem Sein der Tod gemeint sein. Das Dasein in der endlichen Wirklichkeit ist dann ein Nicht-Sein im Vergleich zum eigentlichen Sein der unendlichen Möglichkeiten, das sich mit dem Tod auftut. Der Tod ist in dieser Sicht nur das Ende des Daseins in der bestimmten Wirklichkeit, die es vom ersten Moment an gewonnen hat, nicht jedoch das Ende des Seins mit allen seinen Möglichkeiten, in denen alles, was wirklich ist, beheimatet ist. Er ist kein Lebensende, sondern ein Lebensübergang, nicht etwa ein Übergang vom Sein zum Nicht-Sein, sondern von einem bestimmten, begrenzten Dasein in dieser oder jener Gestalt zum unbestimmten, unbegrenzten,
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