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Dem Leben Sinn geben

Dem Leben Sinn geben

Titel: Dem Leben Sinn geben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Schmid
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legt sie den Arm umihn, und eine Anwohnerin sagt, vielleicht seien Frauen eben doch stärker, wenn man sehe, wie sie ihn noch tröste. Aber vielleicht hält sie auch einfach nur fest, was ihr geblieben ist, und sie finden beide keinen Trost. Es kann keinen Trost geben in der grenzenlosen Leere, die der Verlust eines geliebten Menschen hinterlässt. Es hat keinen Sinn mehr weiterzuleben. Im unvorstellbaren, untröstlichen Schmerz ist ein Mensch irgendwelchen Gedanken und wohlmeinenden Worten, die ihn trösten sollen, nicht mehr zugänglich. Das Leben steht still, es gibt keine Zukunft mehr.
    Dass das Leben in einer solchen Situation nicht einfach weitergeht, ist der innigen Beziehung zum Toten geschuldet, die jetzt nicht endet. Viel später erst kann es vielleicht doch noch um den Trost gehen, der ein Weiterleben ermöglicht, vorausgesetzt, dass ein Mensch überhaupt Trost finden will. Er könnte auch darauf verzichten wollen und wie Rilke allen Trost für »trübe« halten ( Die Briefe an Gräfin Sizzo , Brief vom 6. Januar 1923). Trost ist trübe, wenn er nur auf Ablenkung und Zerstreuung setzt und damit das klare Wasser des Leids trübt, das den Blick in die abgründige Tiefe erlaubt. Nur dann, wenn die Trauer nicht unterdrückt und übertölpelt wird, ist mit ihr das Leben in all seinen Dimensionen auszumessen. Wenn die Trauer dann ihre Zeit hatte, kann die Suche nach Trost beginnen, und dies nicht etwa nur angesichts des Todes, sondern in vielen Situationen des Lebens, in denen ein Mensch trostbedürftig ist. Rilke fragt in den ebenfalls 1923 publizierten Sonetten an Orpheus (Zweiter Teil, XVII) selbst danach:
    Wo, in welchen immer selig bewässerten Gärten, an welchen
    Bäumen, aus welchen zärtlich entblätterten Blüten-Kelchen
    reifen die fremdartigen Früchte der Tröstung? (…)
    Schon das Kind, das sich weh getan hat, verlangt nach Trost und fühlt sich getröstet, wenn sein Schmerz ernst genommen und irgendwie »behandelt« wird. Für so bedeutsam hält es den Trost, dass es einen alleinstehenden Menschen besorgt fragen kann: »Und wer tröstet dich?« Die Erfahrungen, die ein Mensch von klein auf damit macht, getröstet zu werden, seine Fähigkeit, sich beispielsweise mit Phantasiewelten selbst zu trösten, aber auch sein Schmerz, ungetröstet zu bleiben, fügen sich zu seiner »Trostgeschichte« (Irmtraud Tarr, Trost , 2007, 48). Davon hängt es ab, ob und wie jemand in seinem Leben Trost finden kann, wenn etwas schmerzt, etwa ein Misserfolg, eine Missachtung durch Andere, eine Enttäuschung, ein Liebeskummer, eine Trennung von einem geliebten Menschen, und sei sie nur für kurze Zeit, erst recht bei einem ernsthaften Verlust, etwa wenn eine Liebe verlorengeht. Menschen scheinen unter allen Wesen diejenigen zu sein, die am meisten des Trostes bedürfen, eine Besonderheit, die mit den Eigenschaften ihrer Seele, ihres Geistes zu tun haben muss.
    Vermutlich sind Menschen mehr als andere Wesen imstande, die ontologische Differenz zwischen der Wirklichkeit des Lebens und seinen Möglichkeiten wahrzunehmen: Dass nicht alles, was möglich ist, wirklich wird und dass selbst das, was wirklich wird, nicht immer den besten Möglichkeiten entspricht. Moderne Menschen vergrößern die Differenz noch durch ausufernde Erwartungen an ein mögliches Leben, mögliche Beziehungen, ein mögliches Glück, aber je größer die Erwartungen sind, desto größer ist die Trostbedürftigkeit, wenn die Wirklichkeit enttäuschend ausfällt. Nach Trost verlangt auch der schmerzliche Abschied von einer Wirklichkeit, in der ein Mensch gerne lebte, die er aber zugunsten neuer Möglichkeiten hinter sich lassen muss. Und nach Trost verlangt derAbschied von vermeintlichen oder tatsächlichen Möglichkeiten, wenn ein Mensch den Mut zu den nötigen Veränderungen nicht aufbringt und an der bestehenden Wirklichkeit festhält.
    Trostbedürftig ist jedoch vor allem die Erfahrung der Tragik , der Unabänderlichkeit, die einem Menschen bewusst wird, sobald eine Wirklichkeit endgültig besiegelt ist und keine Möglichkeit mehr offensteht. Tragisch ist, dass etwas Ungutes geschieht, das nicht mehr aus der Welt zu schaffen ist. Dass etwas weh tut, das nicht wiedergutzumachen ist. Dass allenfalls die Verletzung, nicht jedoch die Verletzlichkeit heilbar ist. Dass eine Enttäuschung zu groß ist, um noch bewältigt werden zu können. Dass es Ungutes und Unwahres überhaupt gibt. Dass Liebende irgendwann voneinander scheiden müssen. Dass das Leben

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