Dem Leben Sinn geben
gänzlich in der Hingabe an sie aufzugehen, denn eine Selbstaufopferung nützt niemandem. Kinder können ihre Eltern in gleicher Weise lieben und bereit sein, alles für sie zu tun, in solchem Maße, dass die elterliche Ethik Sorge dafür tragen muss, dies nicht auszunutzen. Auch diese leidenschaftliche Beziehung bedarf einer Kunst des Liebens , eines Könnens, das nicht von selbst schon da ist, sondern mit Wissen und Erfahrung erst zu erwerben ist. Um diesen Prozess zu unterstützen, wäre eine Schule der Liebe nicht nur für die Liebe zwischen zweien, sondern auch für die Elternliebe wünschenswert, die in moderner Zeit mit Anforderungen konfrontiert ist, die andere Zeiten, in denen Religion, Tradition und Konvention das »richtige« Verhalten festlegen konnten, nicht kannten.
Die elterliche Liebe setzt erstaunliche Energien frei, in der die Kinder aufleben; die Kinder wiederum halten mit beträchtlichen Energien ihre Eltern in Schwung. Mehr als bei jeder anderen Liebe werden den Eltern jedoch auch Kräfte abverlangt für die Hinnahme etwa von Ärger und Frust, die regelmäßig die Freude und Lust des Lebens mit Kindern konterkarieren. Kinder sind nicht nur Energiespender , sondern auch Energieräuber . Ähnlich wie andere Lieben lebt auch die Liebe zu ihnen von der Fähigkeit, zwischen Zeiten, in denen die freudigen Gefühle überwältigend sind, und Zeiten, in denen sie pausieren und Alltag vorherrscht, atmen zu können.
Atmen kann die Liebe, wenn sie dem Hin und Her Rechnung trägt zwischen den Zeiten der Nähe, in denen das Bedürfnis nach Bindung, und den Zeiten der Distanz, in denen das Bedürfnis nach Freiheit zur Geltung kommt – schwierig allerdings für Alleinerziehende, die nicht einfach mal weggehen können. Für die Atmung in größeren Zeiträumen ist das Einverständnis entscheidend, dass sich mit veränderten Bedürfnissen in der jeweiligen Lebensphase auch die Beziehung verändern kann. Die symbiotische Beziehung der ersten Jahre dauerhaft konservieren zu wollen, kann die Entwicklung der Kinder stark beeinträchtigen (Wolfgang Bergmann, Die Kunst der Elternliebe , 2005).
Die Liebe zu Kindern kann leidenschaftlicher sein als die der Eltern zueinander. Wenn darunter die Liebe zwischen den Eltern leidet, wirkt dies jedoch auf die Kinder zurück. DieHingabe an sie sollte daher dort eine Grenze finden, wo die elterliche Beziehung in Frage steht, die doch erst die Voraussetzung dafür schafft, dass die Kinder im Kraftfeld zwischen den Eltern gedeihen können. »Unsere Kinder (so sehr ich sie liebe) dürfen nicht zwischen uns kommen«, mahnt James Joyce im Brief vom 31. August 1909 seine Frau Nora. Die Liebe zwischen Eltern und Kindern wie auch die der Eltern untereinander ist bedroht, wenn Eifersucht aufkommt, Eifersucht des Vaters oder der Mutter auf das Kind, dem mehr Aufmerksamkeit zuteilwird, oder auf den Anderen, der mehr Zuneigung vom Kind erfährt, auch des Kindes auf den, der mehr als es selbst geliebt wird. Umso größer ist die Eifersucht, je mehr es wirkliche oder gefühlte Gründe dafür gibt, um die Beziehung zu fürchten. Eine mögliche Antwort darauf ist, demjenigen, der sich benachteiligt fühlt, zumindest für eine Weile Privilegien zu gewähren: Seine Nähe zu suchen, wenn er sie braucht, seine Verteidigung zu übernehmen, wenn er in Bedrängnis gerät, und mit ihm allein etwas zu unternehmen, um ohne Rivalität mit Anderen Zeit füreinander zu haben. Auch die Eltern sollten ihrer Beziehung zwischendurch wieder Vorrang einräumen und sich willentlich um Inseln der Zweisamkeit bemühen, wenn für Kontinente einstweilen noch kein Platz ist.
Kinder sind ein Schicksal für ihre Eltern , ein Naturereignis vom Moment der Zeugung an. Möglichkeiten kommen mit ihnen zur Welt und werden Wirklichkeit, aber mit den üblichen ontologischen Einbußen , denn nicht alles, was möglich ist und Eltern sich erträumen, kann wirklich werden. Die Eltern können keine »Bestellung« aufgeben und auch nicht erste Blicke riskieren, wie sie es in ihrer Beziehung zueinander vielleicht anfänglich hielten. Erst recht ist es ausgeschlossen, erst einmal probehalber mit den Kindern zusammenzuleben, umzu sehen, was daraus wird. Die bestehende Konstellation der Familie wird mit dem Zuwachs nicht nur erweitert, sondern von Grund auf verändert, nach dem Grundsatz more is different , »was mehr wird, wird anders«: Was der Nobelpreisträger Philip W. Anderson 1972 für physikalische Systeme formulierte, gilt auch
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