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Dem Leben Sinn geben

Dem Leben Sinn geben

Titel: Dem Leben Sinn geben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Schmid
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eine eigenständige Beziehung zu sich und Anderen zu gewinnen. So wie die Liebe der Liebenden auf das Zusammenbleiben zielt, so die Liebe zwischen Eltern und Kindern auf das Auseinandergehen, das ist der Sinn brachialer Attacken: »Ich habe es satt«, sagt mein 13-jähriger Sohn, »immer nur das liebe Kind zu sein.« Meinen Versuch zur Ehrenrettung der Eltern, es gebe im Leben wenigstens zwei Menschen, denen er absolut vertrauen könne, kontert er kühl: »Nein, gerade denen nicht.« Der Schmerz der Loslösung voneinander ist so groß wie bei einer großen Liebe, die zerbricht, aber es ist die zerbrochene Liebe, die es den Eltern erleichtert, das Kind gehen zu lassen, und dem Kind, dies früher oder später auch wirklich zu tun.
    Pubertät ist die Modernisierung des Kindes, der persönliche Nachvollzug der Moderne, die Befreiung von allen Vorgaben, die die Erfahrung des Grundproblems der Moderne nach sich zieht: Der erlangten Freiheit nicht auch schon eigene Formen geben zu können. Das Freiwerden von familiären Regeln hat nicht sofort zur Folge, nach selbstgesetzten Regeln leben zu können. Einstweilen ist es wichtig, sich vom Gegebenen zu lösen und mit frischer Kreativität neue Wege zu entdecken, mag es auch noch an Wissen und Können fehlen, sie wirklich zu gehen. Es ist die Aufgabe junger Menschen, Möglichkeiten und Unmöglichkeiten ihrer selbst und des Lebens zu erkunden und zu erproben, nach Antworten auf die Fragen der Zeit zu suchen, in der sie leben, und sie letztlich auch zu finden. Die Antworten sind nicht unbedingt die, die die Eltern sich vorstellen, aber es ist unsinnig, dies den Heranwachsenden aus der Sicht derer, die das alles »hinter sich haben«, vorzuwerfen (Jesper Juul, Pubertät. Wenn Erziehen nicht mehr geht , 2010).
    Jetzt wird aus der Liebe zuweilen Hass, aber es ist nur eine Lebensphase, in der es darauf ankommt, den Faden der Beziehung nicht gänzlich abreißen zu lassen. Eltern können ihren Kindern trotz allem sagen, was sie für richtig halten; sie sollten nur nicht erwarten, damit jetzt auf Resonanz zu stoßen. Erst in künftigen Zeiten wird es zur Orientierung im Leben beitragen, jetzt bleibt nur, sich durchzulavieren. Die Zeit ist am ehesten durchzustehen mit der Gewissheit, dass sie vorübergeht und dass, mit sehr wenigen Ausnahmen, großartige Menschen aus denen werden, die im Moment völlig zu missraten drohen.
    Die Eltern können den größten Nutzen für sich aus der Herausforderung ziehen, wenn sie bereit sind, weiter mit ihren Kindern zu wachsen. Kinder bieten jedem, der mit ihnen lebt, auf Lebenszeit die Möglichkeit, die Hand am Puls der Zeitzu halten, die in der Auseinandersetzung mit ihnen fassbarer wird. Mag die Welt auch immer die gleiche sein, dieselbe bleibt sie nie. Mithilfe der Kinder können die Eltern die Veränderungen mitvollziehen, um nicht eines Tages verzweifelt bemerken zu müssen, dass ihnen die Welt, die sie nicht mehr verstehen, abhandengekommen ist und unsägliche Einsamkeit sich breit macht: Schicksal des Älterwerdens in einer Zeit, in der die permanente Veränderung zum Programm geworden ist.
    Mit dem Übergang von der Kindheit zum Erwachsenwerden lassen die Heranwachsenden die Wirklichkeit des elterlichen Lebens hinter sich und richten den Blick auf die Möglichkeiten ihres eigenen Lebens. Mit den Möglichkeiten, die sie im Laufe der Jahre realisieren, verfestigen sie ihre eigene Wirklichkeit, auf die sie stolz sind, wenngleich sie beim Blick zurück den Verlust anderer Möglichkeiten bedauern. Irgendwann erreichen sie den Punkt der weitestmöglichen Entfernung von den Eltern, von dem aus sie in mehr oder weniger großem Bogen zu ihnen zurückkehren. Es kann noch einmal zum Konflikt kommen, wenn die erwachsenen Kinder sich nach gescheiterten Beziehungen oder Karriereabschnitten in die Geborgenheit des Elternhauses zurückziehen wollen ( Boomerang Kids ), wo sich die Eltern gemeinsam oder getrennt neu eingerichtet haben und im wiedergefundenen eigenen Leben nicht gestört werden wollen. Sind alle Konflikte überwunden, bricht die Zeit der Entspannung an. »Anfangs lieben Kinder ihre Eltern noch; wenn sie älter werden, urteilen sie über sie, machmal vergeben sie ihnen« (Oscar Wilde, Eine Frau ohne Bedeutung , 1893, 2. und 4. Akt).
    Sobald aber die Eltern körperlich, womöglich auch seelisch und geistig an Beweglichkeit einbüßen, älter und alt werden, erlebt die Liebe der Kinder zu ihnen ihre eigentliche Bewährungsprobe (Tahar Ben Jelloun,

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