Dem Leben Sinn geben
der Arbeit, um zu überleben, machten es schwer, Kindern auch nur ein wenig Aufmerksamkeit zu widmen; bei ihrer hohen Sterblichkeitsrate war die Bereitschaft dazu wohl auch nicht sonderlich ausgeprägt.
Da sie oft als Übel, Last und Plage erschienen, konnte die prinzipielle Hochschätzung von Nachkommen mühelos mit ihrer Züchtigung vereinbart werden: »Das Ohr eines Jungen sitzt auf seinem Rücken; er hört, wenn man ihn schlägt« ( Papyrus Anastasi III , Ägypten, Neues Reich, 2. Jahrtausend v. Chr.).Nachgerade populär wurde in der abendländischen Geschichte der alttestamentarische Spruch Salomos (13, 24): »Wer seine Rute schont, der hasst seinen Sohn; wer ihn aber liebhat, der züchtigt ihn bald«, ins Neue Testament aufgenommen im Brief an die Hebräer (12, 7), »denn wo ist ein Sohn, den der Vater nicht züchtigt?«. Dass dabei einseitig vom männlichen Nachwuchs die Rede ist, verweist nur auf die soziale Bedeutung, die ihm zugemessen wurde, nicht etwa darauf, dass der weibliche Nachwuchs in irgendeiner Weise geschont worden wäre.
Einen Wendepunkt in der Beziehung zu Kindern markierte die Idee, ihnen und ihrer Entwicklung komme ein eigener Wert zu, 1762 von Jean-Jacques Rousseau in seinem Bildungsroman Émile formuliert, Höhepunkt eines historischen Prozesses der »Entdeckung der Kindheit« (Philippe Ariès, Geschichte der Kindheit , 1960, deutsch 1975). Fortan wird die Eltern-Kind-Beziehung allmählich modernisiert, an die Stelle scheinbar objektiver , religiöser, traditioneller und konventioneller Vorgaben treten subjektive , gefühlsbetonte Beziehungen: Kinder gelten immer mehr als zerbrechliche Wesen, die größter Aufmerksamkeit bedürfen, sodass an die Stelle der Tragik des Kindes , das von Geburt an schlimmen Bedingungen ausgesetzt war, ein Kult des Kindes tritt, dessen Entwicklung bereits vorgeburtlich keinem Zufall mehr überlassen bleiben soll. Mit der autonomen Aufmerksamkeit , die in moderner Zeit erst Karriere macht, versuchen Eltern all das im Leben des Kindes zu bewerkstelligen, was heteronome Mächte zuvor schicksalhaft von außen lenkten. Anders als diese Mächte verschleißt die Aufmerksamkeit aber eigene Kraft und braucht Erholungspausen: Niemand kann unentwegt aufmerksam sein; wer es dennoch versucht, verausgabt sich bis zur Erschöpfung. Die neue Aufmerksamkeit ermöglicht immerhin, überkommene Vorstellungen des Elternseins zu überdenken und alte Rollen auf neue Weise zu definieren:
Schließ deine Augen
Hab keine Angst
Das Monster ist weg
Es rennt davon
Und dein Papa ist hier
In John Lennons zauberhaftem Lied für seinen kleinen Sohn, Beautiful Boy (1980), kommt eine Vaterliebe zum Vorschein, die so ganz anders ausfällt als die historisch lange vorherrschende distanzierte Beziehung, die, wenn überhaupt mit Gefühlen, mehr mit Zorn, weniger mit Zärtlichkeit zu tun hatte. »Väterlichkeit« mag zum Teil etwas sein, das von Natur aus entsteht, etwa als unbewusste Reaktion auf die riechbaren Hormone (Pheromone), die die werdende Mutter abgibt. Ein anderer Teil entstammt der Kultur mit den Üblichkeiten der jeweiligen sozialen Umgebung und der gegenwärtigen Zeit.
Aber auch das Individuum hat seinen Anteil daran und muss keineswegs nur Vorgaben folgen, sondern kann selbst auf Natur und Kultur der Vater-Kind-Beziehung einwirken, die Vaterliebe neu finden und erfinden, wenn ihm dies sinnvoll und wünschenswert erscheint. Von Bedeutung dafür ist die Idee des Vaters , an deren Zustandekommen positive und negative Aspekte der persönlichen Vatererfahrung, individuelle Überlegungen und Diskussionen mit Anderen, gesellschaftliche Diskussionen, mediale Darstellungen, soziologische, psychologische und neurobiologische Erkenntnisse beteiligt sind. Die Umformung einer bestehenden kulturellen Praxis kann daraus hervorgehen, in überschaubarer Zeit: Als immer mehr Väter darauf drängten, bei der Geburt ihrer Kinder zugegenzu sein, wurde dies im selben Maße normal, wie es zuvor ihr Fernbleiben war. Dem Entstehen einer intensiven Beziehung zwischen Vater und Kind scheint das Erleben der Geburt förderlich zu sein, denn »mütterliche« Hormone wie Oxytocin und Prolaktin werden dabei ausgeschüttet, die auch väterlichen Gefühlen zugrunde liegen. Über die Geburt hinaus erfreute es sich bald ebenso großer Beliebtheit, die Kinder mit sich herumzutragen, wie es zuvor verpönt war, und Forschungen zeigten, dass die Art, wie Väter mit Kindern umgehen, für die kindliche Entwicklung von
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