Dem Leben Sinn geben
für familiäre. Mit Kindern wird Familie endgültig zur komplizierten Angelegenheit, so spannend wie spannungsvoll, und es entsteht ein Geflecht von Beziehungen, das nicht mehr zu entflechten ist, denn selbst wenn die Eltern sich trennen, bleiben sie für immer Eltern. Angesichts der Schwierigkeiten, die sie durchstehen, und der Mühen, die sie auf sich nehmen, lässt sich sagen: Eltern sind Helden , selbstlos ohnegleichen, und doch tun sie es nicht nur für die Kinder, sondern auch für sich selbst, für ihre Erfüllung, die sich jedenfalls dann einstellt, wenn aus den Kindern »etwas wird«. Und wenn nicht? Dann können sich die Eltern irgendwann noch von der alleinigen Verantwortung dafür lossagen.
Eltern sind ihrerseits ein Schicksal für ihre Kinder , unabänderlich für alle Zeiten. Sie geben ihnen nicht nur ihre Gene mit, sondern wirken mit ihrem ganzen Leben auf sie ein; ein Leben lang bleiben sie bei aller Bewegung ein Fixpunkt für sie. Schicksalhaft sind bereits Zeugung und Geburt, ohne jede eigene Wahlmöglichkeit für die Kinder, über deren Leben dabei entschieden wird. Sie haben es sich nicht ausgesucht, in diese Welt zu kommen, und sie wachsen unter Umständen heran, über die sie nicht bestimmen können. Die bestehende Konstellation der Familie nimmt Einfluss auf jeden Einzelnen, der sich diesem Einfluss erst wird entziehen können, wenn er in der Lage ist, das Elternhaus zu verlassen, und sollte die Beziehung der Kinder zu den Eltern irgendwann zerbrechen, bleiben sie dennoch deren Kinder. Das Bestimmtsein durch dieEltern ist so existenziell, dass einer wie Nietzsche sich nachgerade verzweifelt davon zu befreien versuchte: »Man ist am wenigsten mit seinen Eltern verwandt« ( Ecce Homo , 1888, »Warum ich so weise bin«, 3). Zumindest kann diese Vorstellung befreiend wirken, um anstelle unliebsamer familiärer Bindungen ein eigenes Netz von Freundschaften zu knüpfen und sich in der Welt zusammenzusuchen, was zuhause nicht zu haben war, im Falle Nietzsches wohl die geistige Auseinandersetzung, und doch bleibt er zeitlebens dankbar für die warmen Socken, die seine Mutter ihm beharrlich hinterherschickt.
Nicht immer ist die Liebe zwischen Eltern und Kindern wechselseitig , sie kann, wie andere Lieben, einseitig sein, von beiden Seiten her: Manche Kinder, die ihre Eltern lieben, hoffen vergeblich auf Resonanz. Manche Eltern, die ihre Kinder lieben, treffen auf keine Gegenliebe. Sie erhoffen sich wenigstens Dankbarkeit für ihre Zuwendung und Zuneigung und sind verbittert über die Undankbarkeit, die sie schmerzt.
Einseitige oder wechselseitige Auszeiten erlebt die Liebe in Trotzphasen, erst recht aber in der Zeit der Pubertät , die meist im Alter von elf, zwölf Jahren einsetzt und unbestimmte Zeit für sich in Anspruch nimmt. Es ist eine Zeit der Auseinandersetzung, vorzugsweise der Jungen mit den Vätern, der Mädchen mit den Müttern. In dieser Zeit verstehen die Eltern ihre eigenen Kinder nicht mehr, halten sie für absolut unvernünftig, für hoffnungslos unerziehbar und glauben psychotische Schübe an ihnen zu bemerken: Die Kinder machen »einfach alles falsch«. Die Heranwachsenden wiederum finden, dass die Eltern beginnen, schwierig zu werden, und absolut nicht auf der Höhe der Zeit sind, hoffnungslos antiquiert, »nur noch peinlich«. So bitter wie die Enttäuschung der Eltern fällt ihre eigene aus, denn die Eltern wollen einfach nichts kapieren undleben auch nicht richtig, wo doch das richtige Leben so einfach ist: »Auf jeden Fall nicht so wie die!«
Im Grunde sind die Phänomene gut erklärbar: Körperlich, seelisch und geistig sind die Heranwachsenden im Umbruch, keine Kinder mehr, noch keine Erwachsenen. Sie werden sich ihrer Kräfte bewusst, ohne schon eine Verwendung dafür zu haben. Alle vorherigen Gewissheiten stehen für sie in Frage, ohne schon über neue zu verfügen. Die Suche nach dem Sinn im Leben setzt ein und den möglichen Antworten nähern sie sich erst einmal von der Seite der absoluten Negation her (Janne Teller, Nichts. Was im Leben wichtig ist , 2010). Die Region im Gehirn, in der viele Sinn-Zusammenhänge hergestellt werden und ein kluges und soziales Verhalten seinen Platz hat, der präfrontale Cortex , wird jetzt erst ausgebildet. Das einzig Brauchbare in dieser Zeit scheint Musik zu sein – sofern es nicht die der Eltern ist.
Jetzt oder nie wird das Leben zum eigenen: Das ist der Sinn der Pubertät . Die Beziehung zu den Eltern muss verloren gehen, um
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