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Dem Leben Sinn geben

Dem Leben Sinn geben

Titel: Dem Leben Sinn geben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Schmid
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lernen, selbstkritisch zu sein, muss ich selbst es sein. Will ich Grenzen setzen, muss ich mich selbst an sie halten. Soll es nicht erlaubt sein zu lügen, darf ich selbst nicht lügen, Kinder achten sehr genau darauf: »Du hast aber gesagt…« Ist die Forderung nicht durchzuhalten, sollte ich sie nicht mit absolutem Anspruch erheben; ein gelegentliches Flunkern kann dann erlaubt sein, etwa wenn ein Anrufer nach mir verlangt: »Ich bin gerade nicht da…« Erziehung kann eine Anleitung zum Richtigen im Falschen sein, wenn der Erziehende selbst dem, was er nach bestem Wissen und Gewissen für richtig hält, auch in einem Umfeld folgt, in dem ihm manches, vieles oder alles falsch zu sein scheint. Glaubwürdig ist der, der sich bemüht, mit seinem eigenen Leben »die Existenzform vorwegzunehmen, die die eigentlich richtige wäre«, auch wenn dies einen Widerspruch gegen bestehende Verhältnisse erfordern sollte und zum Scheitern verurteilt sein könnte: Das meinte jedenfalls Theodor W. Adorno (Vorlesung zur Moralphilosophie vom 28. Februar 1957, Adorno-Archiv, Frankfurt am Main), der damit auf die Frage antwortete: »Wie hat man eigentlich zu leben?«
    Legitimität gewinnt eine Machtausübung ferner, wenn sie gerecht erscheint. Die Ethik der Erziehung trägt dem starken Empfinden für Gerechtigkeit Rechnung, das Kindern eigen ist, die sich gerecht beurteilt sehen wollen und sehr bald schon, nach anfänglichem Egoismus, auf einer gerechten Verteilung von Gütern bestehen, beginnend bei Bonbons. Aber was ist mit einer gerechten Verteilung von Lasten? In einer Familie gilt: Einer muss immer der Esel sein , das Lasttier, das Dinge herbeischleppt und wegschleppt, bereitstellt und aufräumt. Es ist sinnvoll, Kinder altersgemäß daran zu beteiligen, um sie nicht an einen All-Inclusive-Service zu gewöhnen, der zu immer neuen Ansprüchen ermuntert, ohne an die Arbeit zu denken, die damit verbunden sein könnte. Ungerecht ist aus der Sicht vieler Kinder, immer tun zu müssen, was die Eltern sagen, nicht immer Pommes mit Ketchup essen zu dürfen, am Tisch nicht durcheinanderschreien zu sollen, am Abend viel zu früh schlafen gehen zu müssen (amüsante Darstellung in freier Auslegung des Klassikers von Erich Kästner: Emil und die Detektive , Regie Franziska Buch, Deutschland 2001). Aber ist es gerecht, dass Eltern immer tun sollen, was die Kinder wollen; dass es immer nur ihr Problem ist, sich um ein gesundes Essen zu kümmern, am Tisch ihr eigenes Wort nicht mehr zu verstehen und auch abends keine Ruhe zu finden? Gerechtigkeit lebt von der Einübung in den Perspektivenwechsel , den die Eltern vorleben, wenn sie sich in die Kinder hineinversetzen, ihnen aber auch die Perspektive der Eltern nahebringen. Gerechtigkeitsansprüche lassen sich ausbalancieren durch die Einsicht, dass es noch andere Sichtweisen gibt und jede Ich-Gerechtigkeit eine Ungerechtigkeit für Andere sein kann; dassaber auch dann, wenn absolute Gerechtigkeit unmöglich ist, jede Ungerechtigkeit, die einer als solche empfindet, von Anderen wieder abgemildert werden kann. Wenn es gelingt, die Verhältnisse so einzurichten, dass sie nicht zum Davonlaufen sind, sind sie halbwegs gerecht und es lässt sich einstweilen gemeinsam weiterleben.
    Unerträglich erscheint eine Macht, wenn sie zur einseitigen Herrschaft wird, daher gehört die Wechselseitigkeit der Machtausübung zu den Grundelementen einer Ethik der Erziehung. Eltern verfestigen eine einseitige Herrschaft, wenn sie eine »Einheitsfront« gegen ihre Kinder bilden, um sich nicht gegeneinander ausspielen zu lassen. Aber ihre Aufgabe kann nicht die Frontstellung sein, sondern das Bemühen um Verständnis: Da die Kinder den Verhältnissen im Zweifelsfall ausgeliefert sind, verfügen sie über ein feines Sensorium für Macht und versuchen jedes Ungleichgewicht zwischen den Elternteilen dazu zu nutzen, sie gegeneinander antreten zu lassen, um Freiräume für sich zu gewinnen. Und was ist, wenn die Kinder ihrerseits einseitig zu herrschen beginnen und mit Machtmitteln wie Schreien, Verweigern, Umsichschlagen die Eltern terrorisieren? Dann wäre es sinnvoll, ihnen andere Methoden der Machtausübung anzubieten, damit sie erstreben können, was sie wollen, ohne es immer und überall zu bekommen. Dazu dient etwa die Einrichtung eines freien Tages , an dem jeder machen kann, was er will, sowie eines Kindertages , an dem die Kinder darüber bestimmen dürfen, was die Erwachsenen machen, die sich allerdings

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