Dem Leben Sinn geben
Arbeit? Es genügen ein paar Tage der alleinigen Verantwortung dafür, um eines Besseren belehrt zu werden.
Wie aber entsteht Beziehung? Beziehung braucht Berührung , zuallererst die körperliche Berührung durch diejenigen, die dazu befugt sind, in den Grenzen, die ihnen gesetzt sind, mit allen Sinnen: Mit Hinschauen und Zuhören, Riechen und Küssen, Betasten und Umarmen. Von Geburt an macht der Tastsinn den Unterschied: Säuglinge mit viel Hautkontakt erweisen sich als wacher und aktiver und nehmen schneller an Gewicht zu. Ein Mangel an Berührung kann sich hingegen tödlich auswirken: Das war noch zu Anfang des 20. Jahrhunderts eine Erfahrung in Waisenhäusern, in denen es aus hygienischen Gründen und wohl auch aus religiös motivierter Körperfeindlichkeit geboten erschien, Berührung zu vermeiden. Berührung trägt, wie viel später erst entdeckt wurde, über komplexe biochemische Wirkungsketten entscheidend zum Aufbau des Immunsystems bei, und es ist gut vorstellbar, dass auch bei Erwachsenen so manche Erkrankung aus einem Mangel an Berührung resultiert. Die Magie der Berührung , die in der gesamten Kulturgeschichte geläufig ist, zeigt sich in der beruhigenden Wirkung einer dargebotenen Hand oder in der heilenden Wirkung des Handauflegens. Viele Verhaltensweisen können das Bedürfnis nach Berührung stillen, beginnend beim Baby, das am Körper getragen, gestreichelt und massiert wird. Die ganze Kindheit hindurch wirkt es tröstend und heilend, das Kind in den Arm zu nehmen. Mit der Pubertät geht das Berührungsspiel von den Eltern auf Freunde und Liebende über, gerade dann aber erweisen sich diejenigen als Berührungskünstler, die von klein auf ein angemessenes Maß an Berührung erfahren haben.
Über die körperliche Berührung hinaus beruht eine Beziehung erst recht auf seelischer Berührung , auf dem Austausch von Gefühlen in ihrer reichhaltigen und gegensätzlichen Fülle etwa von Freude und Ärger, Fröhlichkeit und Traurigkeit, Lust und Schmerz, Gewissheit und Angst, Zärtlichkeit und Zorn, Begeisterung und Langeweile. Was Psychologen schon lange wussten, konnten Neurobiologen bestätigen: »Versuche, Kinder ohne emotionale Zuwendung, sondern ausschließlich ›rational‹ oder ›vernünftig‹ zu erziehen, haben schwere seelische Beeinträchtigungen zur Folge« (Joachim Bauer, Prinzip Menschlichkeit , 2006, 213).
Und schließlich begründet geistige Berührung Beziehung durch den Austausch von Gedanken und Ideen: Je umfangreicher das geschieht, desto mehr wird die Beziehung vertieft und eine große Vielfalt gedanklicher Verknüpfungen und sprachlicherAusdrucksmöglichkeiten lässt sich entfalten. Mit Berührung in jeder Hinsicht kann ein Mensch wachsen und gedeihen.
Unweigerlich wird das heranwachsende Leben durch Beziehung und Berührung geformt: Erziehung ist Formgebung , Bildung in diesem Sinne. Freiheit braucht Formen, Formen aber brauchen Grenzen: Sie bilden den äußeren Rahmen, in dem ein sinnerfülltes Leben mit sich und Anderen möglich wird. Dazu dient die Begrenzung von Möglichkeiten des Verhaltens, um ein Kind davon abzuhalten, jedem beliebigen Impuls zu folgen, etwa umstandslos auf die Straße zu rennen oder sich jede beliebige Lust zu verschaffen, erst mit zu vielen Süßigkeiten, später mit problematischen Drogen. Grenzen sind im Zweifelsfall eine Frage der Festlegung durch die Erziehenden, die sie nach bestem Wissen und Gewissen für richtig halten, auch wenn sie letztlich nur durch subjektive Überzeugung zu begründen sind. Es ist ihre Aufgabe, Regeln zu formulieren, Vereinbarungen vorzuschlagen und auf deren Einhaltung zu achten, zu sagen, was möglich ist und was nicht und »wann es reicht«. Fällt ihnen das schwer, hilft ihnen etwa ein »Systematisches Training für Eltern und Pädagogen« (STEP), Grenzen so zu setzen, dass Kinder in diesem Rahmen lernen können, eigenständig zu wählen, sich an Abmachungen zu halten und sich schließlich selbst Regeln zu geben. Wo aber kein Rahmen geschaffen wird, kann nichts mehr so recht wirklich werden, es droht die ontologische Paralyse , die Auflösung jeglicher Wirklichkeit im Meer der Möglichkeiten. Dann können Überforderung und Desorientierung irgendwann dazu führen, nicht mehr leben zu wollen, während sich für diejenigen, die sich auf die Realisierung ausgewählter Möglichkeiten, somit aufs Lebenkönnen verstehen, die Frage des Lebenwollens nicht mehr stellt.
Die Formgebung beruht darauf, Einfluss zu nehmen, also
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