Dem Leben Sinn geben
Macht auszuüben: Erziehung ist Machtausübung . Der Machtfrage ist im Prozess der Erziehung nicht zu entkommen, sie stellt sich bereits in früher Kindheit bei Grenzfragen, wenn nicht jedem Wunsch umstandslos entsprochen werden kann, etwa an der Kasse des Supermarkts, wo die Leckereien lauern. Auch die ewige Arbeit, verstreutes Spielzeug wieder einzusammeln, hat kaum ein Kind jemals von selbst getan. Eine sanfte Machtausübung stützt sich auf Anregungen, Anreize und Angebote: »Ich will, dass du das hier machst. Du darfst es machen, wann du willst« (Jesper Juul, Elterncoaching , 2011, 31). Eine weniger sanfte Machtausübung wirft Fragen auf, die nur die Erziehenden selbst beantworten können: Anders als einst verbietet sich nach der Überzeugung vieler jegliche Anwendung körperlicher Gewalt, aber was ist mit seelischer und geistiger Gewalt, also mit dem Entzug von Gefühlen, Aufmerksamkeit und Kommunikation, dem so genannten »Liebesentzug«? Wo sind hier die Grenzen? Ist ein »schiefer Blick« schon Gewaltanwendung? Ist er wirklich vermeidbar?
Die Erziehenden kommen nicht umhin, sich diese Fragen zu stellen und sich selbst Grenzen zu setzen, die von außen nicht immer wirksam zu ziehen und zu überprüfen sind. Eine allgemeine Verbindlichkeit ist wünschenswert, aber zuallererst liegt es am Einzelnen, sich selbst Grenzen aufzuerlegen und auf sie aufzupassen. Eine Ethik der Erziehung ist in erster Linie die Haltung, die der Erziehende selbst sich aneignet, seine eigene Bindung an Werte, an denen er sein praktisches Verhalten in Fragen der Erziehung immer wieder neu orientiert. Die Grundlage dafür ist, sich über die eigenen Werte klarer zu werden, ausgehend von der Frage: Was ist in meinen Augen schön und bejahenswert, was nicht? Was kann ich vor mir selbst verantworten, was nicht?
Macht tendiert zum Missbrauch, das veranlasste den Machttheoretiker Montesquieu im 18. Jahrhundert zu politischen Überlegungen, die auch für persönliche Machtverhältnisse von Belang sind: Machtausübung braucht Mäßigung . »Damit die Macht nicht missbraucht werden kann, muss die Anordnung der Dinge so sein, dass die Macht die Macht zügelt« ( Vom Geist der Gesetze , 1748, 11, 4). Die zügelnde Macht kann hier nur die Macht der Reflexion und Selbstreflexion sein, die der Ethik der Erziehung zugrunde liegt und einen Wechsel der Perspektive ermöglicht: Wie würde ich mich fühlen, wenn ich in der Situation des Kindes wäre und ein Anderer so mit mir umgehen würde, wie ich mit ihm?
Ausgerechnet die egoistische Ich-Perspektive , die den meisten Menschen naheliegt, führt interessanterweise zu altruistischen Konsequenzen , zu einem achtsamen Umgang mit Anderen, in diesem Fall mit dem Kind. Denn klugerweise kann ich für meinen Umgang mit Anderen nur das bejahen, was ich auch für deren Umgang mit mir bejahen kann. Das Eigeninteresse, das damit ins Spiel kommt, mündet in die Goldene Regel , dem Kind grundsätzlich zuzugestehen, was auch mir in seiner Situation zupasskäme, und ihm nur das zuzumuten, was auch mir unter vergleichbaren Umständen abverlangt werden dürfte. Mit Erfahrung und immer neuer Besinnung verfeinert sich das Gespür für das jeweils Gute und Richtige, sodass ich schließlich auch ohne lange Überlegung zu sicheren Schlüssen kommen kann und Willkür unwahrscheinlicher wird.
Eine große Rolle bei jeder Mäßigung spielt zudem der Zeitfaktor . Je länger eine Machtausübung anhält, desto schwerer fällt der Verzicht darauf. Gelingt ihre zeitliche Begrenzung im Kleinen, dann auch eher im Großen. Jede Macht, die sich zur Gewohnheitsmacht verfestigt, läuft Gefahr, zementiert zuwerden. Das kann geschehen, wenn das heranwachsende Leben zu sehr und zu lange als Teil des eigenen Lebens betrachtet wird, das Kind also zum permanenten Gegenstand von Gestaltung, zum »Projektkind« (Jesper Juul) gemacht wird, als wäre es das eigene Selbst: Soll dies ein ganzes Leben so bleiben?
Einige Grundelemente einer Ethik der Erziehung erleichtern die Mäßigung und Begrenzung der Macht: Jede Machtausübung, auch die der Erziehung, braucht Legitimität , um akzeptiert zu werden. Die wiederum kommt am ehesten durch die Glaubwürdigkeit der Erziehenden zustande, die sich um das Richtige, das sie propagieren, selbst bemühen und das, wozu sie erziehen, selbst vorleben. Will ich dazu anleiten, aufmerksam auf Andere zu sein, muss ich dies selbst unter Beweis stellen, eine wirksame Selbsterziehung zur Ethik. Sollen die Kinder
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