Dem Leben Sinn geben
selbst Beziehungen wertschätzen. Von Sinn erfüllt ist der, der in Beziehungen lebt, in denen er sich immer wieder als freudigen Glanz in den Augen Anderer wahrnehmen kann.
Auf geistiger, gedanklicher Ebene regt Erziehung dazu an, sich für abstrakte Zusammenhänge zu interessieren und sie durch Deutung selbst zu erzeugen: »Was denkst du darüber? Woher kommt das? Wie funktioniert das? Was könnte dahinterstecken?« Der vielgerühmte Sinn des Vorlesens und Selbstlesens besteht darin, gezeigt zu bekommen und selbst zu erfahren, wie geistiger Sinn entsteht, wie aus Gedanken Wörter und Sätze werden und diese sich zu Geschichten fügen; wie beim Vorlesen von Geschichten noch dazu ein Zusammenhang zwischen den Beteiligten fühlbar wird. Geistige Sinngebung heißt, wirkliche Zusammenhänge des Lebens und der Welt im Denken zu erfassen, ohne dass dieser Prozess je abschließbar wäre, und mögliche sich auszudenken, ohne dass allen Möglichkeiten eine Wirklichkeit entsprechen könnte. Zu den erdachten Möglichkeiten gehören Ziele, etwa ein Glück, das erstrebenswert erscheint, aber Erziehung macht auch damit vertraut, dass allzu hohe Glückserwartungen eine höhere Anfälligkeit für Enttäuschungen mit sich bringen; dass es verschiedene Arten von Glück gibt und dass zum Menschsein ein Unglücklichsein gehören kann, sei es in Einsamkeit oder Gemeinsamkeit. Zur geistigen Sinngebung, um die Erziehung sich bemüht, zählt außerdem das Offenhalten eines umfassenden Sinns , eines möglichen Zusammenhangs über das endliche Leben hinaus, sodass eine große Vielfalt von Sinn auf allen Ebenen erfahrbar wird, sinnlich, seelisch, geistig und womöglich transzendent.
Um viele Möglichkeiten des Lebens und des Sinns für sich erschließen zu können, brauchen die Heranwachsenden Mut; daher gilt von Grund auf: Erziehung ist Ermutigung . Ermutigend ist die Zuversicht der Erziehenden, in der die Kinder aufblühen, bei ihrem Ausbleiben aber dahinwelken (Jürg Frick, Die Kraft der Ermutigung , 2011). Ermutigend ist das Vertrauen darauf, Herausforderungen meistern zu können, und eine gute Voraussetzung dafür ist die Auffassung, dass ein Leben ohne sie wohl kaum wünschbar wäre, denn wie spannend könnte so ein Leben sein? Ermutigend ist vor allem der Erwerb von vieler l ei Können unter Anleitung der Erziehenden: Sinnlich sein können, fühlen können, mit Anderen umgehen können, Gedanken ausdrücken können, Wissen erarbeiten können, wählen können, handwerklich und technisch etwas können, kochen und aufräumen können… Das Einzelkönnen summiert sich zum Lebenkönnen, entmutigend aber ist, nichts zu können und mit unerfüllbaren Forderungen konfrontiert zu sein. Ermutigend bei der Entwicklung eines Könnens ist, eigene Stärken zu entdecken und auszubilden, aber auch die Schwächen zu kennen, um sie teils zu akzeptieren, teils an ihnen zu arbeiten. Um immerzu nacharbeiten zu können, befähigt Erziehung zur Selbsterziehung. Für die Erziehenden selbst ist es ermutigend, die Kinder heranwachsen zu sehen und etwas gelingen zu sehen, das zwischendurch zu misslingen schien. Stolz schreibt James Joyce an seine Frau Nora (Brief vom 31. August 1909): »Wenn sie gut geraten und edelmütig sind, dann haben sie das von uns , Liebe.« Zum Teil jedenfalls, zu anderen Teilen von Anderen, Gleichaltrigen, Freunden, Erziehern, Lehrern. Und Geschwistern.
Geschwisterliebe, Geschwisterhass
Familie, das sind auch Geschwister, sofern da überhaupt noch welche sind. Die Beziehungen zu ihnen müssen nicht erst mühsam begründet werden, sie sind vielmehr immer schon da und können auch das ganze Leben hindurch erhalten bleiben. Der wechselseitige Beistand, die Solidarität, die diese Beziehungen auszeichnen kann, fand eine bemerkenswerte Würdigung in der Trinität der Werte der Französischen Revolution, die außer Freiheit und Gleichheit auch Brüderlichkeit( fraternité ) als Ideal des Menschseins propagierte. Bereits 1785 goss Friedrich Schiller den Traum der angehenden Revolutionäre mit der Ode an die Freude in Verse, 1824 von Ludwig van Beethoven im Schlusssatz der 9. Symphonie in Töne gesetzt: »Alle Menschen werden Brüder«. Es dauerte geraume Zeit, bis mit der Brüderlichkeit auch Schwesterlichkeit gemeint sein konnte, im weiteren Verlauf der Moderne aber geriet der dritte Wert gemeinsam mit dem zweiten der Gleichheit ins Hintertreffen gegenüber der Freiheit, die attraktiver erschien und als Befreiung von überkommenen Bindungen
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