Dem Leben Sinn geben
Selbst der von seiner Mutter und anderen guten Geistern verlassene Michel Houellebecq fand, seinen späteren Romanhelden recht ähnlich, bei der Großmutter Glück und Geborgenheit. Seit jeher und in allen Kulturen kommt Großmüttern eine Unterstützerrolle bei der Sorge für den Nachwuchs zu, zusätzlich sind Großväter mehr als je zuvor dazu bereit.
Dabei wird die Beziehung zu den Enkeln sehr wohl von modernen Herausforderungen tangiert: Aufgrund moderner Arbeitsverhältnisse und Lebensmöglichkeiten wohnen die Großeltern meist nicht mehr unter demselben Dach oder im »Austragsstüberl« nebenan oder sonstwie in leicht erreichbarer Nähe. Sie führen ein aktiveres Leben als die Großeltern früherer Zeiten, fühlen sich lange jung und unternehmen viel dafür, körperlich und geistig fit zu bleiben. Stress resultiert für sie nach dem Ausscheiden aus dem Arbeitsleben noch aus der schwierigen Koordination von Verabredungen, allerlei Tätigkeiten, ehrenamtlichen Engagements, Kreuzfahrten und anderen Reisen.
Einige Faktoren widerstehen jedoch jeder Modernisierung: Kein noch so erfolgreiches, mit natürlichen und sonstigen Mitteln betriebenes Anti-Aging kann am faktischen Älterwerden etwas ändern. Das allmähliche Nachlassen der Kräfte hat zur Folge, nicht mehr im selben Maße agil und mobil sein zu können wie die Jüngeren. Was die kleineren Kinder noch nicht kennen, beginnen die Großeltern schrittweise hinter sich zu lassen: Die moderne Kultur der Zeit , in der die Eltern leben, geprägt von einer vergehenden, linearen Zeit , die ständig in Minuten und Sekunden gemessen wird. Der Eindruck der Atemlosigkeit, den diese Zeit vermittelt, ergibt sich aus dem ontologisch fragwürdigen Versuch, immer mehr Möglichkeiten in einer immer enger erscheinenden Wirklichkeit unterbringen zu wollen. Immer neue Techniken werden dafür genutzt, in schneller Abfolge möglichst viel zu realisieren: Rasch noch ein Meeting abhalten, telefonisch eine Verabredung treffen, einkaufen gehen, die Kinder von der Schule abholen, sie zum Sport bringen, bei einer Freundin vorbeischauen, Essen machen, vielleicht dank eines Babysitters ins Kino gehen, immermit dem Gefühl, noch viel mehr, Anderes, Neues müsste möglich sein.
Für diese schnelle Zeitwelt der Eltern sind Kinder stets zu langsam, unentwegt müssen sie angetrieben werden. Sie bleiben aber gerne am Wegrand stehen, vollauf damit beschäftigt, die Wirklichkeit zu entdecken, die voller Wunder und Rätsel ist; für die vielen Möglichkeiten darüber hinaus steht ihnen das gesamte künftige Leben zur Verfügung. Kinder sind nicht modern, die moderne Welt hat sich von Anfang an damit schwergetan, einen Platz für sie zu finden. In einem langwierigen Prozess erst ist es gelungen, Schutzräume für sie zu schaffen, Kinderspielplätze, Kinderhorte, Kindergärten, in denen sie vor den Bedrohungen durch technische Errungenschaften der Moderne sicher sind.
In der Grundstruktur ihres Lebens sind die Älteren, die sich aufgrund eingeschränkter Mobilität ihrerseits vor Techniken der Beschleunigung in Acht nehmen müssen, den Jüngsten nahe. Gerade weil die zeitliche Distanz zwischen den Generationen so ausgeprägt ist, passen ihre Zeiten gut zueinander, die gefühlte Nähe wirkt nicht erdrückend. Großeltern bewohnen mit ihren Enkeln die geruhsamere Kultur des Raumes , in der Dinge und Menschen verharren können, statt ständig fluktuieren zu müssen. Ihre gemeinsame Wirklichkeit kann sich zeitlich ausdehnen und wird nicht mehr von Möglichkeiten zu Tode gehetzt. Sie können Stunden für einen kurzen Weg brauchen, der auf Schritt und Tritt aufregend ist. Liebevoll gepflegte, vertrauenswürdig wiederkehrende Gewohnheiten und Rituale, die einen ruhigeren Atem erlauben, bilden Inseln einer zyklischen Zeit im Meer der modernen Hektik.
Mag sein, dass Begegnungen mit den Enkeln seltener sind als in vergangenen Zeiten, dann aber haben Großeltern Zeit,ihnen zuzuhören und die Dinge der Welt zu erklären, ihnen vorzulesen und mit ihnen etwas zu unternehmen, spektakuläre Ausflüge ebenso wie alltägliche Arbeiten, an denen sie teilhaben können. Einige Jahre später werden die Großeltern, sofern sie nicht von selbst schon mit den neuesten Techniken vertraut sind, von den Heranwachsenden in sie eingeführt. Moderne Kommunikationsmittel erlauben ihnen, auch über große Entfernungen in Verbindung mit den Enkeln zu bleiben, für die es weiterhin ein Ereignis bleibt, wenn die Großeltern an sie
Weitere Kostenlose Bücher